Lothar Ledderose: "China Schreibt Anders":Disziplin der Hände

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Zeichen kultureller Kohärenz: Schriftzüge auf dem Gipfel des Berges Tai in der Provinz Shandong in China. (Foto: imago/Xinhua)

Der Sinologe Lothar Ledderose und sein kompakter Band über die Kultur und den Machtanspruch der chinesischen Schrift.

Von Tilman Spengler

"Alles ist durch das Wort geworden und hat unter uns gewohnt", so haben wir es bei dem Evangelisten gelernt. Aber in welcher Form das Wort sich eine Wohnung einrichtete, wie es in Schrift festgehalten wurde und wird, ob gemalt, gedruckt, geritzt oder geknotet, dafür fanden die Weltkulturen grundverschiedene Techniken.

Der Heidelberger Sinologe und Kunsthistoriker Lothar Ledderose, ein weltweit anerkannter Vertreter seiner Zünfte, hat jetzt in einem so schlanken wie kompakten, höchst lesenswerten Essay den Weg beschrieben, den die chinesische Kultur zur Bewahrung ihrer Worte verfolgt hat. Schreiben ist seit jeher und überall sehr viel mehr als die plane Sammlung und Übermittlung von Daten. Aber keine andere als die chinesische Kultur hat ein so komplexes System geschaffen, in dem die Schrift die höchsten Werte von gesellschaftlicher Ordnung, von Ästhetik und von Transzendenz verkörpert.

Unter einer Überschrift von der Hand Mao Zedongs: Die "Volkstageszeitung" aus Peking. (Foto: fengxiaolin/imago images/Imaginechina-Tuchon)

Das begann vor mehr als 3300 Jahren mit der Deutung von Zeichen in den sogenannten Orakelknochen, die den Zugang zum Jenseits erschlossen. Das zeigt sich bis heute in der Bedeutung der Kunst der Kalligraphie, die naturgemäß auch das sehr persönliche Kennzeichen einer jeden Person ist, die schreibt. Denn jedes Zeichen ist, nur leicht überspitzt gesagt, immer auch eine Besitzergreifung, zumindest der Anspruch darauf. Ledderose bringt dafür zahlreiche Beispiele quer durch die chinesische Geschichte. Eines der treffendsten aus jüngerer Zeit findet er ausgerechnet in der Pekinger Volkszeitung, dem Organ der Kommunistischen Partei Chinas, dessen Titel seit Gründung der Zeitung vor mehr als 70 Jahren in der unverkennbaren Handschrift von Mao Zedong erscheint.

Die Ordnung, der Aufbau dieser Zeichen will gelernt sein. Kommen die Schüler eines "westlichen" Alphabets, egal, ob griechische, kyrillische, etruskische oder römische Buchstaben, mit wenig mehr als zwanzig Einzelformen aus, sind es im Chinesischen, wo jedes Wort durch ein ihm eigenes Zeichen ausgedrückt wird, mehrere Tausend und mehr Symbole. Das lernt sich nicht in wenigen Grundschulklassen, das bedarf eines längeren, entbehrungsreichen und von manch ekligen Züchtigungen gespickten Exerzitiums. Dessen Schwergewicht liegt zunächst einmal auf ödem Kopieren, also auf der so beständigen wie stupiden Wiederholung von Mustern, da auch die Abfolge eines jeden Strichs des Zeichens bindend vorgegeben ist. Man muss kein diplomierter Verhaltensforscher sein, um daraus Schlüsse über unterschiedliche Formen in der Sozialisierung von Kindern und ihren Ängsten vor Autoritäten zu ziehen.

Diese Autoritäten, und das ist in China seit jeher der Fall, sind die sozialen und die politischen Eliten. Geburtsadel spielte außerhalb der kaiserlichen Familie langfristig meist eine erfreulich geringe Rolle. Maß der Ordnung war, biblisch gesagt, der Schriftgelehrte. Nur ein verschwindend kleiner Teil der Bevölkerung konnte lesen, geschweige denn schreiben. Das ist heute um einige Welten besser geworden, doch fundamental hat sich daran auch in der digitalen Welt wenig geändert. "Die Stabilität seines Schriftsystems," schreibt Ledderose, "gewährt Chinas kulturelle Kohärenz." Was immer das für diese Anordnung zu bedeuten hat.

(Foto: N/A)

Es waren, und es bleiben schließlich die Zeichen an den Wänden, welche die entscheidenden Botschaften verkünden. Die Zeichen der Herrschenden und oft auch die Zeichen der politisch Aufbegehrenden. "Fürchte nichts, fürchte nur die Wandzeitungen", hieß eine der beklemmenden Losungen während der sogenannten "Kulturrevolution" vor 60 Jahren. Das waren die bösen Schriften an der Wand

Doch China kennt auch die friedliche Eroberung durch die Macht der Zeichen. Ledderose hat in einem gewaltigen Projekt der Heidelberger Akademie zusammen mit seinen chinesischen Kollegen erforscht, wie das Vordringen des Buddhismus nach China sich über die Jahrhunderte an in Bergwände gemeißelten Texte verfolgen lässt. Es ist ein Fest des Glaubens, gleichzeitig ein Monumentalwerk der Kalligraphie. Und selbst führende Vertreter der KP Chinas, beinharte Atheisten, bemühten sich noch in den letzten Jahrzehnten in die "heilige Berge" der Provinz Shandong, um dort ihre Namenszeichen und Kommentare neben sakrale Texte zu setzen. Politiker drängt es stets zu Orten der Unsterblichkeit.

Auf seinen kaum mehr als 100 Seiten richtet Ledderose unseren Blick auf zentrale Aspekte der chinesischen Kultur, die im Alltagsgeschäft der Nachrichten keinen Platz finden können. Erhellend, bereichernd, Neugier erweckend. Man wünscht es auf vielen Schreibtischen von Entscheidungsträgern.

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