Süddeutsche Zeitung

London wird autofrei:PS: war nicht alles besser

London will Autos aus der Innenstadt verbannen. Dabei galten die mal als Rettung vor der Pferdeplage. Ein kleiner Rückblick.

Von Helmut Mauró

Wenn man sie nur oft genug wiederholt, werden Lügen wahr. Das wussten schon antike Rhetoriker. Zum Beispiel das schöne Zitat von Kaiser Wilhelm: "Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung." Viel zitiert und doch erlogen. Hat er nie gesagt. Ist aber egal, es stimmt ja trotzdem. Schon jetzt beschleicht einen heimelige Wärme, wenn man sich Großstädte denkt, durch die nur noch leise surrende Elektrofahrräder, ferngesteuerte Busse und vielleicht gar ein paar klappernde Pferde ziehen. Eine Welt der leisen Töne, ein Wettbewerb der Rücksichtnahme; man unterhält sich beinahe flüsternd, kein Lärm, kein Abgasgestank nirgends. Wie paradiesisch könnten die Städte sein, wenn nur die Autos nicht wären. Wie früher. Oder?

1900 zogen allein in London mehr als 10 000 Droschken durch die Straßen. Dazu kamen Warentransporte und Busse, deren Pferde täglich mehrmals gewechselt wurden. 50 000 Pferde trabten durch die Stadt. In New York 100 000. Man muss sich diesen Lärm mal vorstellen, vom Sonnenaufgang bis zum letzten Strahl. Letzteres in doppelter Bedeutung. Denn die Pferde verursachten bis Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur viel Lärm, sondern etwa zwei Liter Urin und 15 Kilo Mist pro Tier und Tag. In London also täglich mehr als 500 000 Kilo, in New York: mehr als eine Million Kilo von dem Zeug, das man euphemisierend Pferdeäpfel nannte und als Superdünger lobte. Gibt nichts Besseres. Fördert aber massiv, weil auch Fliegen drauf fliegen, die Ausbreitung von Krankheiten wie Typhus. Es kommt ja auch noch hinzu, dass die Tiere irgendwann mitten auf der Straße tot zusammenbrachen und die Kadaver tagelang herumlagen, bis sie zerkleinert und weggeschafft wurden.

Wie verhindern, dass der Mist drei Meter hoch in den Straßen liegt? Das Automobil war die Rettung. Ein Segen!

Die London Times warnte daher 1894 angesichts der Pferdeplage: 1950 würde der Pferdemist drei Meter hoch liegen, wenn das so weiterginge. Stadtplaner und Politiker suchten nach Lösungen, man baute U-Bahnen, verbesserte den Nahverkehr. Half alles nichts. Ein radikaler Schnitt musste her, eine Energiewende. Grünfutter war nicht länger zu verantworten, die Belastung für Menschen und Umwelt war zu groß. Was tun? Tempolimit oder Beschleunigungsgebot? Wenn die gleiche Strecke vom selben Pferd zügiger zurückgelegt werden könnte, wäre der Dungausstoß dann aufs Ganze gesehen nicht wesentlich geringer?

Die Erlösung kam unverhofft aus Deutschland, wo sich zwei Herren um die Entwicklung eines neuen Antriebs kümmerten, der ohne Dampf und Dung auskam, sondern mit Benzin. Das Automobil war geboren. Welche Erleichterung für die geplagten Städter, welch tiefes Luftholen. Saubere Luft, saubere Straßen. Für alle. Ein Wunder war geschehen, das Auto hatte Mensch und Umwelt gerettet. Erst mal. Im April dieses Jahres sprach sich der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan für ein Verbot von Privatfahrzeugen in weiten Teilen der Stadt aus.

Die Times zeigte sich in ihrer Berichterstattung etwas irritiert und flüchtete sich in das Format "Leserumfrage - Sollten private Autos aus den Innenstädten verbannt werden?" Das Image der Pferde hat sich jedenfalls exorbitant verbessert, seit sie nicht mehr auf den Straßen sind. Werden sie wiederkommen? Eines ist klar: Kaum ein Politiker würde sich trauen, sie zu verbieten.

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