Lob der Langeweile:Es gibt doch nichts Besseres als nichts Besseres zu tun zu haben!

Jeder kennt sie. Keiner mag sie. Schade! Dieser Text ist für alle, die es nicht gelernt haben, die Langeweile zu lieben - vermutlich weil sie nie die Gelegehneit hatten, welche zu haben. Von Christoph Fasel

Warum lesen Sie gerade diese Zeilen? Weil das Auto gewaschen, das Laub geharkt und die Steuererklärung erledigt ist? Weil im Fernseher die 28. Wiederholung der Schwarzwaldklinik läuft? Vielleicht, weil im Magazin der Süddeutschen Zeitung immer so spannende Sachen stehen? Oder weil Sie gerade einfach nichts Besseres zu tun haben ­ kurzum: weil sie sich langweilen?

Lob der Langeweile: Das ist, wenn wir es richtig verstanden haben, die Zeichengeste für "Langeweile". Die finden wir nun aber gar nicht langweilig.

Das ist, wenn wir es richtig verstanden haben, die Zeichengeste für "Langeweile". Die finden wir nun aber gar nicht langweilig.

Sie müssen sich nicht schämen, im Gegenteil: Falls das mit der Langeweile zutrifft: herzlichen Glückwunsch! Sie gehören zu einer bedrohten Art von Menschen in unserem Lande. Nämlich jener, die sich den Luxus erlaubt, Langeweile genießen zu können.

Sie halten das für Blödsinn und haben dafür keine Zeit? In zehn Minuten werden Sie begonnen haben, die Langeweile zu lieben. Das heißt, falls Sie genügend Muße aufbringen, diesen Text zu Ende zu lesen. Denn genügend Zeit ist die Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt den Luxus der Langeweile genießen können.

Da beginnt schon das erste Problem: Wer hat heute noch Zeit? Wer kann sich noch erlauben, die "Windstille der Seele" zu genießen, als die Friedrich Nietzsche die Langeweile beschrieb? Sie ist die eine Tochter der Muße ­ ein Gast, der den Menschen des neuen Jahrtausends selten beehrt. Die andere Tochter der Muße ist vielen sogar gänzlich abhanden gekommen. Sie trägt den Namen Spiel.

Es gibt doch nichts Besseres als nichts Besseres zu tun zu haben!

Vorausgesetzt also, wir hätten Zeit: Sie ist für die meisten von uns viel zu einzigartig, als dass wir uns darin langweilen dürften. Zeit ist kostbar und deshalb muss sie um jeden Preis genutzt werden. Möglichst mit Tätigkeiten, die wir als sinnvoll begreifen. So kommt es zu jenen zahlreichen Zeit raubenden Verrichtungen, die unseren Alltag von morgens bis abends durchformen. Egal ob Manager, Mutter oder Schulkind:

Unsere Terminkalender sind voll. Und jede Lücke zwingt uns zu panischem Grübeln: Was könnte da noch reinpassen?

Wir setzen uns in Auto, Straßenbahn oder Flugzeug, um uns von einem Ort namens "zu Hause" zu einem anderen Ort namens "Arbeitsplatz" zu bewegen, der vordergründig dazu dient, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen ­ tatsächlich jedoch meist dazu, die acht Stunden des so genannten Arbeitstages mit Konferenzen und Formularausfüllen, Kollegentratsch und Kantinenbesuch totzuschlagen. Erst in der Freizeit drehen wir richtig auf: Ob Tennismatch oder Kleintierzüchterverein, ob Fitness-Studio oder Modelleisenbahnbau im Kellergeschoss ­- irgendwie schaffen wir es immer, unsere Zeit mit Tätigkeiten durchzutakten. Bloß keine Langeweile aufkommen lassen. Psychologen nennen diese Art, Freizeit ihrer Freiheit zu berauben, schon lange: Freizeitstress.

Auch für unsere Kinder haben wir die Langeweile abgeschafft. Wir schicken sie von Montag bis Freitag nach dem Kindergarten oder der Schule zum Judotraining, Flötenunterricht oder in die Ballettgruppe, auf dass bloß kein sozialschädlicher Leerlauf entstehe. Nie soll ein Kind die Frage stellen: "Mami, was soll ich machen?" Nie soll es sagen: "Papi, mir ist so langweilig!"

Wie war das zu den Kinderzeiten der Eltern unserer Kinder? Wir durften uns noch langweilen. Und zwar ausgiebig. Zum Beispiel an quälenden verregneten Sonntagnachmittagen. Bonanza ab 17.15 Uhr. Vor dieser Uhrzeit war Fernsehen tabu. Also etwas tun. Aber was? Computer? Hä? Playstation? Darunter fiel höchstens die Spielesammlung samt Mensch-ärgere-Dich-nicht-Brett, Mikado-Stäbchen und Halma-Figuren. Und dann als Begleitmusik die pädagogisch wertvollen Sätze unserer Eltern: "Du hast doch ein Zimmer voller Spielsachen! Bastel doch mal was!"

Wer das mitgemacht hat, den schockt das Leiden der Langeweile noch als Grauhaariger. Versuchen wir deshalb heute, unseren Kindern auf Teufel komm raus die Begegnung mit ihm zu ersparen?

Die Medien helfen uns dabei nach Kräften. Am Abend liefern wir die Familie kollektiv dem Frontalangriff auf Auge und Ohr aus, indem wir den Fernseher einschalten, der uns Sinneseindrücke aufpresst, damit wir selbst keine eigenen mehr einweben müssen. Denn was ist schon die Mühe eines Gesprächs zwischen Eltern und Kindern gegen die leistungslos empfangene Unterhaltung des Fernsehens oder des Internet-Angebots? Für unsere Kinder stirbt die Langeweile aus. Als Qual ­ aber leider auch als Chance zur Konzentration.

Aber wollen wir das überhaupt, Konzentration oder Stille, Muße oder Langeweile? Wir sind insgeheim doch froh darüber, dass 5000 kino-, fernseh- und internetlose und damit vermeintlich langweilige Jahre Menschheitsgeschichte der Vergangenheit angehören. Dass Radio und Internet, Computerspiel und Reisefieber, Partyhopping und Eventkultur uns stündlich neue Hetzjagden auf das bescheren, was wir inzwischen Leben nennen.

Das ganze Unglück der Menschen, so schrieb der französische Religionsphilosoph Blaise Pascal einmal, bestehe in ihrer Unfähigkeit, in Ruhe in ihrem Zimmer zu bleiben. So stehen wir dauernd auf, öffnen die Tür und strömen in alle Welt. Nur selten findet ein arbeitender Zeitgenosse das Schlupfloch zurück in jenen Zustand der stillen Einfalt, wie sie der Fischer in Heinrich Bölls Anekdote zur Untergrabung der Arbeitsmoral vorstellt: jener Tagträumer am Rand des Hafens, der darauf verzichtet, öfter aufs Meer zu fahren und mehr Fische zu fangen, noch mehr Geld zu verdienen, nur um sich dann der Muße hingeben zu können ­ weil er die doch ohnehin jetzt schon pflegt.

Es gibt doch nichts Besseres als nichts Besseres zu tun zu haben!

Doch gelingt es uns mit all unseren Tätigkeiten wirklich, der Langeweile zu entkommen? Je mehr Energie wir darauf verwenden, uns nicht zu langweilen, desto drastischer fällt dieses Gefühl auf uns zurück. Was soll im durchorganisierten Freizeitleben des Ferienparks, bei der Kaffeefahrt oder im Swinger-Club auch anderes entstehen als wiederum: Langeweile? Die Autorin Eva Severini folgert daraus, diese Form der Schlappheit der Seele werde sich "zu einem gravierenden Problem der Zukunft auswachsen". Der Grund: Erlittene Langeweile entspringt dem Gefühl der Ohnmacht ­ sich selbst, seiner Umwelt, seiner Zeit gegenüber. Wer seinem Job entfremdet ist, hat keinen Spaß daran. Arbeiter langweilen sich mit 43 Prozent fünfmal so häufig wie Selbstständige.

Biochemisch wurde die Langeweile übrigens längst entschlüsselt. Die Regel lautet: Wer zu wenig Adrenalin hat, langweilt sich. Das kann selbst echten Stresshormon-Profis widerfahren ­ wie dem Formel-1-Fahrer Juan Pablo Montoya. Der funkte im Jahr 2002 bei über 300 km/h den Satz an die Box: "Mir ist langweilig!" Dem Mann ist offensichtlich nicht zu helfen.

Den Normalverbrauchern von Adrenalin hingegen schon. Die ärgsten Langweiler stürzen sich am Bungee-Seil von Fernsehtürmen, lassen sich in Neopren-Anzügen durch Wildwasserschluchten werfen oder suchen den Nervenkitzel bei Achterbahn-Fahrten an den Grenzen der Erdbeschleunigung. Tröstlich für die Stubenhocker ist da nur die Tatsache, dass das Stresshormon Adrenalin die User dem Herzinfarkt näher treibt. Workaholics und Ekstase-Sucher sterben früher. Die Freizeitindustrie stört das wenig. Im Gegenteil: Immer ärgere Kicks sind der Renner.

Wie viele Pauschalreisen, Hometrainer, Joggingschuhe, Rollerskates, Kaffeefahrten, Heimkinos oder Porno-DVDs würden unter die Leute gebracht, wenn nicht eine immer währende Furcht vor der Langeweile herrschen würde? Sie ist der überragende Konsumfaktor der Freizeitgesellschaft. Sehen wir es mit aller Schärfe: 35-Stunden-Woche und Frühverrentung, löcherige Universitätslehrpläne und ermüdender, weil unterfordernder Arbeitsalltag, sie sind nichts anderes als ein gigantisches Arbeitsbeschaffungsprogramm zur Ankurbelung des Freizeitmarktes, der Wachstumsindustrie der Zukunft.

Doch bei aller menschlichen Schlichtheit, bei aller hormonellen Determination, bei aller gesamtwirtschaftlichen Notwendigkeit: Es muss doch noch eine andere Form der Nichtbeschäftigung geben. Eine, die Produktivität und schöpferisches Tun überhaupt erst möglich macht. Eine Form ausdrücklicher Nichtbeschäftigung, bei der wir uns inspirieren und erholen können.

Gemeint ist die Muße. Sie beschreibt jenen schillernden Zustand zwischen Trägheit und Kontemplation, der Abwesenheit der Verpflichtung und der Erfüllung gerade durch das ziellose Nichtstun ­ die genossene Langeweile.

Das Lexikon definiert die Muße als "das tätige Nichtstun" oder als eine "spezifische Form schöpferischer Verwendung von Freizeit" und damit als "Grundbedingung der Selbstfindung der kreativen Selbstverwirklichung". Hehrer Anspruch. Fassen wir es einfacher. Wie wäre es mit der Definition: "Einfach mal nichts tun?" Nichts machen, denken, sagen müssen. Einfach nur da sein. Dem Augenblick Raum geben. Doch das fällt uns schwer. Ein Grund dafür: Muße zwingt uns zu der schlimmsten Begegnung, die dem Individuum möglich ist: der Begegnung mit uns selbst.

Davor laufen wir weg. Vor unseren Sorgen, unseren Fehlern, unseren Misserfolgen ­ aber auch unserem Verlangen, in dieser Gesellschaft perfekt sein zu müssen. Auf der Strecke bleiben die kleinen Sensationen, die uns Muße und Langeweile bieten: der öde Nachmittag, an dem man nicht draußen und auch nicht allein bei sich sein mag. Oder das Nachdenken ohne Ziel, das Herumträumen, das sinnlose An-die-Decke-Starren, das Bauen von Luftschlössern. Wir haben vollkommen vergessen, dass wir früher einmal so viel Zeit verplempern durften, bis uns von selber der Gedanke kam, ein Bild zu malen. War das nicht schön, als wir uns noch am eigenen Schopf aus der Langeweile zogen und aus diesem Nichtstun eine gute Idee entstand? Die Gefahr, sich zu langweilen dient heute als Totschlagargument gegen sinnfreie Betätigungen, die in Wahrheit nichts sind als Erholungspausen. Schlaf ist langweilig, mit Inlineskates durch die Stadt zu fahren ist spannend. Kluge Kulturen finden diese Einstellung dumm und haben Recht damit.

Wir brauchen wieder mehr Langeweile. Dringender als je zuvor. Weil sie uns beflügelt ­ im Gegensatz zu jenen Angeboten, die vorgeben, sie zu vertreiben. Wir brauchen sie, weil sie uns wie ein guter Freund jene Fähigkeit erhält, die wir zunehmend verlieren: jene Fragen an uns zu stellen, die wir uns vor lauter Trubel nicht mehr zu stellen wagen. Daher hier ein Appell: langweilen Sie sich, meinetwegen mit diesem Text. Vergeuden Sie Ihre Zeit mit dem Betrachten von Obst oder dem Zählen von Reiskörnern. Tun Sie etwas. Aber es sollte zu nichts nutze sein. Machen Sie es wie ich. Mein Auto ist gewaschen, das Laub geharkt, die Belege für die Steuererklärung sind sortiert und dem Steuerberater überantwortet. Sogar die Küche habe ich noch geputzt. Die Kinder schlafen. Und damit hatte ich wirklich keinen Grund mehr, nicht mit dem Schreiben anzufangen.

Christoph Fasel, 46, hat vier Kinder, drei Firmen, eine Professur und ist Chefredakteur mehrerer kleiner Magazine. Kurz nachdem er seinen Text abgegeben hatte, besuchte ihn ein Fernsehteam vom Hessischen Rundfunk. Das Thema der Reportage: Unrast.

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