Dass Deutschland das Land der Provinz ist, wurde nie bestritten. Dabei sind eigentlich gerade jene Länder, von denen aus dieses Urteil seine Perspektive gewann, in der Masse ihres Territoriums noch viel tiefere Provinz, als es in Deutschland je der Fall war. Man denke an Frankreich mit seinem ländlichen Frieden, wie es sich längs der Routes Nationales erschließt, ein Frieden, der, je näher man an Paris herankommt, desto mehr etwas Totenhaftes annimmt. Man staunt über die großen Kathedralen in den kleinen Städten, aber eigentlich noch mehr darüber, wie wenig ihnen in der Neuzeit nachfolgte. In Frankreich sind bedeutende Stadtbilder und Baudenkmäler, die nach dem 16. Jahrhundert entstanden, die Ausnahme: Paris zog alle Kräfte an sich und nährte sich vampirisch vom Rest des Landes.
Metropole und Provinz, das scheint ein Nullsummenspiel, das in jeder Nation anders ausging - in Deutschland eben so, dass an keiner Stelle etwas wirklich Großes zusammenkam, aber dafür die Schätze und Kräfte sich an vielen einzelnen Stellen verteilten. Für ein Land als Ganzes dürfte diese Variante insgesamt die vorteilhaftere sein, denn sie garantiert, dass ein weit größerer Teil der Bevölkerung nahen Zugang zu den ökonomischen und kulturellen Ressourcen hat, und bremst die Herausbildung einer blasierten und parasitären hauptstädtischen Oberschicht, die sich für vorbildhaft erklärt, vor allem aber als Tyrann gebärdet. Dem deutschen Provinzialismus wohnt ein ausgleichendes Element inne, er sorgt dafür, dass mit den Orts- nicht auch die Klassendifferenzen in den Himmel wachsen, er hat einen fast gemütlich-sozialistischen Zug.
Das bedeutet nicht, dass alle Regionen sich ähnelten, ganz im Gegenteil; aber sie unterscheiden sich in der geographischen Fläche und nicht nach oben und unten. Vor einigen Jahren ging ein des Deutschen kundiger russischer Schriftsteller hierzulande auf Lesereise, und als man ihn fragte, was ihm am meisten auffalle, antwortete er: Hier sei es gelungen, eines der wichtigsten Ziele Lenins zu verwirklichen, welches in der Sowjetunion niemals erreicht worden sei, nämlich die qualitative Angleichung der Lebensverhältnisse in Stadt und Land.
Das heißt natürlich zunächst einmal, dass sich Bequemlichkeit und Wohlstand vom Zentrum aus über die Peripherie verbreiten; im Resultat aber schwächt es die in der Differenzierung wurzelnde Dominanz des Zentrums und flößt dem vormals dörflichen Bereich Kräfte ein. Auch dies, der flächendeckende Vormarsch der Verstädterung, ist ein Sieg der Provinz.
Das Schöne am entwickelten Provinzialismus, der also nicht nur einen Reduktionszustand nach erfolgter Aussaugung durch die Metropole bedeutet, sondern seine Bestände in einer langen lokalen Geschichte schaffen und vermehren konnte, ist seine abwechslungsreiche Kleinteiligkeit. Sie wird von bestimmten geographischen Voraussetzungen begünstigt, kleinen Flusstälern etwa mit kleinen bewaldeten Höhenzügen dazwischen und einem nahen Horizont, der sich nicht glatt, sondern wellig gestaltet. So sehen die zwei kulturell einflussreichsten deutschen Landschaften aus, die südwestdeutsche und die ostmitteldeutsche; beide sind von Haus aus nicht sehr groß, steigern aber ihre gefühlte Größe durch Faltungsprozesse nach innen.
In Thüringen war es der bei allem Duodezmäßigen doch stets umfassende Anspruch der Mini-Residenzen, der im Kleinen das Universale vergegenwärtigte, in Sachsen der von früher, wasserkraftgestützter Textilindustrie genährte Bürgerstolz, in Schwaben die alte Tradition der freien Reichsstädte, in Franken der noch mehr zu Zwergstrukturen tendierende Weinbau, der auch den Dörfern Mauern und den Weinbergen Mäuerchen verlieh. Das Putzige und Miefige, besonders penetrant, wo das Überlieferte im Zeichen wachsenden Reichtums totrenoviert worden ist, schweben immer in gefährlicher Nähe; doch genügt zuweilen ein blühender Apfelbaum, um es zu zerstreuen.
Und man vergesse auch nicht den speziell deutschen Typus der großen Provinzstadt. Das sind Kommunen von 200 000 bis 600 000 Einwohnern (in manchen Gegenden reichen auch schon 100 000), die infrastrukturell alles haben, wodurch Metropolen sich auszuzeichnen pflegen, angefangen bei Straßen- und selbst U-Bahnen bis hin zum Dreispartentheater; alles ein bisschen, aber nicht entscheidend kleiner als in den wirklich großen Orten. In solchen Städten lebt es sich, wenn man ein paar Eitelkeiten und Einbildungen abzieht, meist besser als in denen der nächsten oder übernächsten Größenordnung, und deutlich entspannter; verzichten muss man auf gar nichts.
Dabei stirbt dank modernen Austauschs allmählich die Kategorie der dämonischen Entlegenheit ab, jenes "Aber so sind hier die Leute", mit dem Degenhardt einem noch in den sechziger und siebziger Jahren Schauer über den Rücken jagte. Es soll, wie Einheimische versichern, das einst berühmte Passauer Kabarett in den letzten Jahren ganz zahnlos geworden sein, und zwar weil ihm sein fruchtbarer Widerpart, die einst bodenlos rabenschwarze Lokalfarbe dieser Stadt, immer mehr abhanden kommt. Kein Zeichen ist hoffnungsvoller.
Die ohnehin starken provinziellen Traditionen Deutschlands wurden durch die Teilung 1945 bis 1949 noch einmal beträchtlich verstärkt. Jede der beiden deutschen Hälften, um ihr Ganzes gebracht, sah sich auf ihre Regionen zurückgeworfen, auf die des Rheins und seiner Nebenflüsse der westliche und auf den im weiteren Sinn sächsischen Raum der östliche Staat.
Berlin schied als Metropole gewaltsam aus. Es war auch schon vorher eigentlich nicht Metropole gewesen, seine Blüte, allzu spät begonnen und allzu früh schon wieder abgebrochen, hatte keine historischen Wurzeln. Und seine geographische Lage ließ sich als zentral allenfalls für das alte Preußen beschreiben - für das Preußen nach 1815, das Westfalen und das Rheinland hinzugewonnen hatte, eigentlich schon nicht mehr. Vollends nach der Vereinigung von 1990 hat es nunmehr im Verhältnis zur Gesamtnation eine krasse Randlage inne; östlich von hier kommen noch 80 Kilometer Kiefernwälder und Kartoffeläcker und dann die polnische Grenze. Die überspannten Hoffnungen der neunziger Jahre, der ganze Berlin-Hype, sind inzwischen einer nüchternen Einschätzung der Lage gewichen.
Die Stadt gewinnt nicht, sie verliert an Einwohnern und lässt wenig Kraft erkennen, ihre Umgebung krakenhaft zuzuwuchern, wie es sich für eine echte Metropole gehört. Wer von Südosten mit der Bahn hereinfährt, kann sehen, wie die Steppe in die Stadt zieht. Und Berlin ist so obszön billig! Eine Weltstadt, die auf sich hält, hat Wohnraumprobleme zu haben, kleine, absurd teure, schlechte Appartements, die nur auf dem Weg des Geheimtipps zu kriegen sind, nicht dieses Überangebot an sanierten Altbauten.
Es ist das alles sehr in Ordnung. Wer nach Berlin kommen will, tut es, die anderen sehen sich nicht schlechter gestellt, bloß weil sie in der Provinz bleiben. Die Provinz neidet und grollt nicht, die Hauptstadt blickt nicht oder nur wenig auf sie herab; dazu fehlt es ihr an jedem Anlass. Der sprachlich-physiognomische Typ des Berliners wird gelegentlich durch seine Klappe oder seinen leicht beleidigten Unterton unangenehm, der immer mitzuschwingen scheint, aber nie durch Arroganz im engeren Sinn, über die z. B. die Italiener an den Römern klagen, die Amerikaner an den New Yorkern, von den Parisern zu schweigen.
Eher, dass ein Hanseat über das Prollige der Hauptstadt die Nase rümpft. Wenn es irgendwo in einer mittelgroßen deutschen Stadt einen Skandal gibt, kann es schon mal passieren, dass einer aufsteht und "Provinzposse!" ruft. Das ist aber nur als eine tendenziell veraltende, rein graduelle Steigerung von "Posse" überhaupt zu verstehen. Jeder weiß, dass die Sache in der Hauptstadt wenig anders und kaum größer geriete. Ja, auch die eigentlichen Metropolen dieser Erde dürften gegen das eigentlich Possenhafte an der Posse nicht gefeit sein. Wie heißt es doch in Ambrose Bierces "Aus dem Wörterbuch des Teufels" zum Stichwort "Weltstadt": "Hochburgen des Provinzialismus".