In der Debatte um Sinn und Unsinn der westlichen Entwicklungshilfe gibt es vereinfacht gesprochen zwei Lager. Die einen sagen, man habe früher Fehler gemacht, nun aber werde, wenn nur genug politischer Wille und Geld auf Seiten der Industrienationen, ehrliches Engagement und transparente Strukturen auf Seiten der Entwicklungsländer gewährleistet seien, alles gut. Bob Geldof, Bono und der Ökonom Jeffrey Sachs sind die bekanntesten Vertreter dieser Fraktion.
Die Skeptiker sagen, Entwicklungshilfe schade mehr als sie nütze. "Wenn Hilfsgelder die Lösung für Afrikas Probleme wären, wäre es ein reicher Kontinent," schreibt etwa der Journalist Richard Dowden. Jeder lebende Afrikaner habe rund 5000 Dollar erhalten, den sechsfachen Betrag des Marshallplanes für Europa nach dem Krieg. Mittlerweile schließen sich immer mehr Afrikaner dieser Ansicht an. So forderte die Ökonomin Dambisa Moyo, sämtliche Hilfe in den kommenden fünf Jahren abzuschaffen, außer der Hilfe bei Naturkatastrophen.
Nun ist die Debatte wieder neu entflammt, dank eines Buches des britischen Journalisten Peter Gill, der sich genau angeschaut hat, welchen langfristigen Einfluss Live Aid und Live 8 auf Äthiopien hatten ("Famine and Foreigners: Ethiopia Since Live Aid".) Sein Resultat ist verheerend.
Bob Geldofs Single "Do They Know It's Christmas?" kam im November 1984 heraus und war das Startsignal für die Band Aid/Live Aid-Kampagne, obwohl, wie Gill trocken anmerkt, die "Äthiopier sehr wohl wussten, dass Weihnachten war, schließlich verhungerten ja in der Hauptsache Christen." Der Satz zeigt, dass das Projekt schon im Kern falsch angelegt war. Ja, schon der BBC-Bericht, der Geldof seinerzeit auf die Hungersnot aufmerksam machte, zeichnete ein falsches, weil apolitisches Bild, zeigte er den Hunger doch als Naturkatastrophe "biblischen Ausmaßes", so als er eine Strafe Gottes oder des Wetters.
In Gills Schilderung wird Äthiopien zum Paradebeispiel für Amartya Sens Diktum, dass es in der Moderne noch in keiner funktionierenden Demokratie zu einer Hungersnot gekommen sei, und dass eine freie Presse und politische Oppositionskräfte das beste Frühwarnsystem gegen Hungersnöte seien. Anders ausgedrückt: Während Hungersnöte bis ins neunzehnte Jahrhundert meist klimatisch bedingt waren, sind sie heute ausnahmslos Folge antidemokratischer Maßnahmen diktatorischer Regimes.
Die Hungersnot im Äthiopien der achtziger Jahre wurde hauptsächlich durch die Derg, die stalinistische Junta unter Mengistu Haile Mariam, verursacht. In ihrem Kampf gegen aufständische Truppen aus der Provinz Tigray vernichteten die Derg Getreide, zerstörten Handelswege, überfielen Märkte - und gaben all das offen zu. Ein Regierungssprecher sagte damals: "Nahrung ist eines der wichtigsten Elemente im Kampf gegen die Sezessionisten." Und natürlich floss das meiste Geld aus Exporterlösen in die Rüstung statt in die Infrastruktur.
Kurzum: Die anhaltende Dürre war schlimm, über mehrere Jahre fielen die Ernten aus. Dass aber 1984 acht Millionen Menschen hungerten, war größtenteils Schuld der Regierung.
120 Millionen Dollar kamen dank Live Aid zusammen. Bob Geldof resümierte ein paar Jahre später, das Projekt sei "fast perfekt gewesen in dem, was es erreicht hat". Das kann einem, wenn man Gill liest, nur als Hohn erscheinen. Gill konzediert zwar, die Hilfsleistungen hätten vielen Menschen das Leben gerettet. Andererseits, und das macht Live Aid so tragisch, sind durch diese Gelder auch Tausende zu Tode gekommen: Die Regierungstruppen siedelten Hunderttausende Menschen aus den notleidenden Gegenden Nordäthiopiens im Süden des Landes an. Den Hilfsorganisationen verkauften sie das als Mittel im Kampf gegen den Hunger. Vor allem ging es ihnen aber darum, die Bevölkerung in den aufständischen Regionen auszudünnen.
"Seid Ihr bereit für eine Revolution?"
Die zwangsrekrutierten Menschen wurden fünf, sechs Tage lang durchs Land gefahren, bei diesen auszehrenden Transporten sind 50.000 bis 100.000 Menschen gestorben. In den südäthiopischen Gegenden starben dann viele an Seuchen und am Dreck in den Lagern. Finanziert wurden diese Zwangsumsiedlungen großteils von den Live-Aid-Spenden. Die französische Sektion der "Médécins sans Frontieres" zog sich damals unter Protest aus Äthiopien zurück - und sagte, dies sei"die größte Deportation seit dem Völkermord der Khmer Rouge". Darauf angesprochen, tadelte Geldof einen Journalisten der Irish Times: "Wir sollten Hilfe leisten, ohne uns den Kopf über Bevölkerungstranfers zu zerbrechen". Für Gill ist das ein symptomatischer Satz für die besserwisserische Ignoranz , für das Gießkannenprinzip des Westens. Hauptsache, es fließt Geld.
20 Jahre später, 2005 auf dem Live-8-Event, wurden zwar keine Spenden eingesammelt. Der Super-Simultan-Gig mit Konzerten in weltweit neun Städten sollte Druck ausüben auf die G8, den dreißig ärmsten Ländern die Schulden zu erlassen. Was lief das gut rein, als Madonna von der Bühne rief: "Seid ihr bereit für eine Revolution? Seid ihr bereit, Geschichte zu schreiben?" Aber hallo, alle waren bereit, zumal es nur eine Konzertkarte dafür brauchte.
Hilfe für den Despoten
Das Bittere an dieser zweiten Hilfsaktion aber war, dass der äthiopische Präsident Meles Zenawi von Geldof, Bono und Tony Blair auf dem Edinburgher Gipfel hofiert wurde. Gill kann sich nur wundern, wie der Mann, der kurz zuvor die Wahlen in Äthiopien in einem Blutbad hatte enden lassen, als neues Role Model des afrikanischen Staatsführers auratisiert wurde. Bono schwärmte von seinen ökonomischen Kenntnissen, Blair feierte ihn als Vorzeigepolitiker. Seither durfte Meles, wie David Rieff in einer exzellenten Besprechung des Buches von Gill anmerkt, "Afrika auf einem nach dem anderen Panel vertreten, von G8 über G 20 bis Kopenhagen 2009." Was bedeutet, das Live8 vor allem einem geholfen hat: Dem Despoten Meles Zenawi.
Das Land aber, das Meles angeblich so anders verwaltet, ist nach dem Schuldenerlass so abhängig von Hilfsgeldern wie zuvor, Demokratie ist keine in Sicht - und Gill ist sicher, dass die wirklichen Katastrophen in Äthiopien erst kommen werden: Die Bevölkerung hat sich seit dem Live-Aid-Projekt auf 80 Millionen verdoppelt und wird sich in den kommenden 25 Jahren nochmals verdoppeln.
Bittere Medizin
Es ist eine verdammt bittere Medizin, die Gill seinen Lesern verabreicht, am Ende gibt es keine Patentrezepte, im Gegenteil. Projekte wie das von Bono und Jeffrey Sachs vollmundig mitpropagierte "Millenium Development Project", das verspricht, bis 2025 die Armut weltweit auszurotten, wenn nur die Geberländer weiter kräftig ihre Gießkanne über Afrika halten, erscheinen einem nach der Lektüre beeindruckend weltfremd. Oder verantwortungslos.