Little Britain:Warten auf Ocadot

Was für ein Segen: In England liefern Supermärkte die Lebensmittel auf Wunsch direkt vor die Wohnungstür. Es ist allerdings ganz, ganz wichtig, beim Warten auf keinen Fall die Nerven zu verlieren.

Christian Zaschke

In der vergangenen Woche hatte ich mit dem stets erstaunlichen G. im Artillery Arms ein Bier getrunken und war in eine Crime Scene geraten. Ein Mann war in der Nähe niedergestochen worden und hatte sich zum Pub geschleppt, von wo ihn ein Rettungswagen ins Krankenhaus brachte. G. und ich kamen erst, als alles längst vorbei war. Wir standen trinkend vor dem Pub, während ein Polizist ein Absperrband um uns und das Gebäude zog, was sich recht seltsam anfühlte. Wir harrten dennoch aus, weil G. gern sein frisches Bier austrinken wollte. Während wir so herumstanden, fuhr ein Lieferwagen von Ocado vorbei.

Ocado ist der Lieferdienst einer Supermarktkette. Normalerweise gehe ich zu meinem kleinen Laden um die Ecke und trage die Einkäufe selbst nach Hause. An diesem Tag aber hatte ich morgens eine Lieferung bestellt, die um spätestens sechs Uhr abends bei mir ankommen sollte. Um fünf hatte G. angerufen und gefragt, ob wir gegen sieben ein Feierabendbier trinken sollten. "Unbedingt", sagte ich, "ich muss nur diese Lieferung abwarten, die kommt vor sechs." G., der vorgab, sich mit Lebensmittellieferungen auszukennen, sagte: "Okay. Wir sehen uns dann gegen neun."

Ich hatte zuvor ein einziges Mal etwas in London bestellt, einfach, um es mal auszuprobieren. Es waren zwei Kisten Wein für ein kleines Fest, und sie kamen eine halbe Stunde zu früh. Also hatte ich Vertrauen gefasst. Ab sechs Uhr erwartete ich das Klingeln jede Sekunde. Um fünf nach sechs wurde ich ein bisschen ungeduldig. Um zehn nach sechs sagte ich mir: Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren! Um Viertel nach sechs machte ich den ersten Fehler: Ich schaute aus dem Fenster. Wer auf einen Lieferservice wartet und aus dem Fenster schaut, wird mit Verspätung nicht unter einer Stunde bestraft.

Ich rief G. an und sagte: "Kleine Verzögerung." Er sagte: "Mach dir ne Kippe an, dann kommt er sofort." Das war der zweite Fehler: Wer auf einen Lieferservice wartet und sich eine Beschleunigungs-Zigarette anzündet, wird mit Verspätung nicht unter zwei Stunden bestraft. Ab sieben Uhr stand ich durchgehend am Fenster, ab halb acht hatte ich keine Zigaretten mehr und schaute der Sonne dabei zu, wie sie allmählich unterging. Wenn G. auf dem Handy anrief, drückte ich ihn weg. Um acht klingelte es. Ich hatte den Wagen auf der Straße nicht mal gesehen.

Als wir knapp eine Stunde später vor dem Artillery Arms in der Crime Scene standen und der Ocado-Wagen vorbeifuhr, sagte G.: "Ich hab' schon die Überschrift für deine nächste Kolumne." Ich schaute auf das Absperrband, ich schaute auf sein immer noch dreiviertelvolles Bier, ich schaute nirgendwo hin. Ich sagte: "Okay, sag' es." G.sagte: "Warten auf Ocadot."

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