Kürzlich lag ich eine Weile mit 40 Grad Fieber im Bett, aber ich ging nicht zum Arzt. Kaum genesen, lief ich mit Wucht gegen die Dachschräge im Wohnzimmer. Aus der Platzwunde auf meiner Stirn schoss das Blut, aber ich ging nicht zum Arzt. Etwas überraschend überlebte ich beide Vorfälle. Damit hätte es gut sein können, aber ich hatte den Eindruck gewonnen, dass ich eventuell doch sterblich sein könnte. Im Lichte dieser Erkenntnis beschloss ich, mich beim NHS anzumelden.
Die Rezeptionistin in der Arztpraxis schaute mich an, schaute auf den Anmeldebogen mit meinen Daten, schaute wieder mich an und sagte freundlich: "So, jetzt brauche ich aber noch ihre NHS-Nummer." Sie war Mitte 50, hatte kurze blonde Haare und saß hinter einer kugelsicherdicken Glasscheibe. Durch das Sprechloch im Panzerglas rief ich ebenso freundlich: "Ich habe ja wie gesagt noch keine NHS-Nummer." Sie schüttelte den Kopf. Es war die Art von Kopfschütteln, mit der Fräulein Rottenmeier auf ungefähr alles reagiert, was Heidi tut. Das fand ich nicht ganz angemessen, weil ich als mittelalter und durchaus anmeldewilliger Mann vor ihr stand. Aber ich lächelte weiterhin freundlich, weil ich den NHS für eine zumindest im Prinzip hervorragende Errungenschaft halte.
Der NHS ist der Nationale Gesundheitsdienst in Großbritannien. Wer hier lebt, wird kostenlos ärztlich behandelt. Man muss sich lediglich bei einer Praxis registrieren, und schon gehört man dazu. Ich hatte bisher von einer Registrierung abgesehen, was daran lag, dass meine örtliche Arztpraxis gerade geschlossen hatte, wenn ich nachts aus unruhigen Träumen erwachte und daran dachte, dass ich mich vielleicht dringend genau jetzt registrieren sollte. Wann immer ich tagsüber an eine Registrierung beim NHS dachte, hatte ich grad was anderes vor oder war mit dem stets erstaunlichen G. unterwegs. So gingen zwei Jahre ins Land.
Die Rezeptionistin schaute auf den Anmeldebogen. Sie sagte: "Aber Sie leben seit zwei Jahren in England. Also haben Sie auch eine Nummer." Ich beugte mich zum Sprechloch und rief: "Ja. Und nein." Sie schüttelte erneut den Kopf und zeigte auf die etwa zwei Zoll lange, allmählich verheilende Wunde auf meiner Stirn: "Damit waren Sie beim Arzt. Also haben Sie auch eine NHS-Nummer." Ins Sprechloch rief ich: "War nur 'ne Platzwunde." Sie schüttelte den Kopf. Ich bilde mir ein, dass sie seufzte. Dann fragte sie: "Sie waren damit wirklich nicht beim Arzt?" Ich schüttelte so energisch den Kopf, dass der Riss leise pochte. Die Rezeptionistin schaute mich an, schaute auf den Anmeldebogen und schaute wieder mich an. Sie sagte: "Na dann, herzlich willkommen. Wir nehmen Sie auf."