Literaturwissenschaft:Revue der Moderne, Tänze der Revolte

Literaturwissenschaft: Ethel Matala de Mazza:  Der populäre Pakt. Verhandlungen der Moderne zwischen Operette und Feuilleton. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 480 Seiten, 25 Euro.

Ethel Matala de Mazza: Der populäre Pakt. Verhandlungen der Moderne zwischen Operette und Feuilleton. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 480 Seiten, 25 Euro.

Berlin, Wien, Paris: Ethel Matala de Mazza erhellt den "populären Pakt" zwischen Feuilleton und Operette und die "Poetik der kleinen Formen" im Zeitalter der Massenkultur

Von Jörg Später

Die Literaturwissenschaftlerin Ethel Matala de Mazza hat eine Reise unternommen - zunächst in das Berlin der 1920er-Jahre, die Stadt des Feuilletons. Und von dort aus zeitlich rückwärts in die Stadt der Operette, Paris während des Second Empire. Und dann wieder diachron vorwärts nach Wien während des Zeitraums von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg. Bei dieser Rückwärts-vorwärts-Reise besichtigt sie den "populären Pakt der kleinen Formen": Die literarischen Feuilletons und die musiktheatralischen Operetten bildeten als "Poetik der kleinen Form" (Alfred Polgar) beide für sich und im Zusammenspiel neue Formen von Massenkultur auf dem Zeitkontinent der "Moderne".

Der wichtigste Reiseführer ist Siegfried Kracauer, Meister des Feuilletons und soziologischer Beobachter der Angestelltenkultur in der Hauptstadt der rasanten Zwanziger, Berlin. Hier setzte sich eine Massenkultur durch, deren typische Erscheinungs- und Ausdrucksformen der Film, die Revue und eben das Feuilleton waren. Die kleinen Zeitungsartikel nutzte Kracauer als Form, Gesellschaftliches an den Oberflächenerscheinungen der Städte und ihrer Kultur abzulesen und Philosophisches über die Conditio humana des profanen Zeitalters zu sagen.

Kracauer, der 1933 aus Berlin geflüchtete Redakteur der Frankfurter Zeitung schrieb Mitte der 1930er-Jahre seine Sozialgeschichte der Operette in Paris. Die Operette war sozusagen der Film des 19. Jahrhunderts - auf das gemeine Publikum ausgerichtet, unterhaltsam und leicht, manchmal frivol und frech. Kracauer befand, dass die Operette so erfolgreich sein konnte, weil die Gesellschaft und das Regime Napoléons III. selbst operettenhaft waren, während Jacques Offenbach, der Meister dieses musikalischen Bühnenstücks, teilweise subversiv auf der Klaviatur dieser ersten Ansätze von Massenkultur spielte. So sieht es auch Matala de Mazza, die auch die Auswirkungen dieses öffentlichen und gegenwartsbezogenen Theaters auf andere Kulturformen des Pariser Lebens wie Lyrik (Baudelaire und Heine), Roman (Flaubert) und politisch-philosophisches Pamphlet (Marx) im Auge hat.

Karl Kraus nimmt den Sozialvertrag zwischen Wiener Operette und Kaiserreich aufs Korn

Nach Wien wird Matala de Mazza von der Operette selbst geführt. Hier wiederholt sich die Pariser Liaison von Gesellschaft und Operette mit dem Duett von Wiener Walzer und Habsburger Kaiserreich. Franz Joseph II. hatte Franz Lehárs lustige Witwe als Gespielin. Die Rolle von Kracauer übernimmt nun Karl Kraus, der den Sozialvertrag zwischen Wiener Operette und Kaiserreich aufs Korn nimmt, manchmal allerdings, wie Matala de Mazza zeigt, mit antijüdischen Untertönen. Kraus war als Kritiker nicht nur der Operette, sondern zugleich des Feuilletons seinen Gegenständen ambivalent verbunden. Auch bei ihm, dem Solitär und Phrasenbekämpfer, berühren sich, wie bei Kracauer, die Milieus der beiden neuen massenkulturellen Erscheinungsformen, nun eher negativ gewendet. Mit dem Weltkrieg, den Kraus als "Blutoperette" bezeichnete, endet die Forschungsreise.

In den "Verhandlungen der Moderne zwischen Operette und Feuilleton" - so der etwas opake Untertitel - geht es um Formen von Öffentlichkeit, um die res publica, also um jenen Bereich zwischen Staat und Gesellschaft, in dem sich Kulturschaffende, Publizisten, Künstler tummeln und der so politisch ist wie die Politik selbst und so ökonomisch wie die Ökonomie selbst. In dieser Öffentlichkeit wurden Information und Meinung verbreitet, über das richtige Leben außerhalb der privaten Räume verhandelt, aber die Öffentlichkeit ist auch ein Produktionsort von Kultur mit einer eigenen politischen Ökonomie. Adorno hat deshalb in der Dialektik der Aufklärung das Wort von der "Kulturindustrie" geprägt, in der geistigen und künstlerischen Produkten das Schicksal zukommt, zur Ware zu werden. Und Jürgen Habermas hat in den 1960er-Jahren den Verfall der "bürgerlichen" Öffentlichkeit festgestellt, wie wir sie aus dem 19. Jahrhundert in Westeuropa kennen.

Matala de Mazza diskutiert diese theoretischen Vorlagen nicht offensiv, aber sie will zeigen, dass Feuilleton und Operette zu komplex und elastisch sind, um mit ihnen eine Verfallsgeschichte zu schreiben. Im Gegenteil, für sie sind sie die ästhetischen Ausdrucksmomente einer Massendemokratie, die bis heute als mindere Genres unterschätzt werden.

Eine Verbindung zwischen Populärem und Populistischem diskutiert Matala de Mazza nicht

Der Strukturwandel der Öffentlichkeit zwischen der Französischen Revolution und dem Ende der Weimarer Republik ist für sie wesentlich mitbestimmt durch jenen populären Pakt, der ein demokratisches Versprechen der allgemeinen Teilhabe ästhetisch verstärkte. Die kleinen Formen der Feuilletonpressen und die Genres des musikalischen Unterhaltungstheaters bargen eine Dialektik von Nonsens und Konsens in sich mit dem Potenzial, nicht nur Menschen, sondern auch Verhältnisse zum Tanzen zu bringen.

Dass die reale Geschichte freilich in den Nationalsozialismus mündet, wird zwar angesichts von Einzelschicksalen registriert, hat aber keine Auswirkungen auf die These. Eine mögliche Verbindung zwischen Populärem und Populistischem wird nicht diskutiert. Vielleicht liegt das auch daran, dass der Ideologiekritiker Kracauer nicht dasselbe Gewicht erhält wie der Feuilletonist, der die Massenkultur gegen die Hochkultur der Ernstlinge und Würdenträger verteidigte. So wie Kracauer die Oberflächenkultur in Filmen, Revuen, Architekturen als substanziell erachtete und die kleine Form der Darstellung suchte, so sehr spottete er über die verdummenden, ja menschenverachtenden Kulturtechniken der Verblödungsindustrie. Die Berliner Angestellten erwiesen sich in der Tat als leichte Beute der Nazis. Die Autorin blendet diese ambivalente Haltung Kracauers zwar nicht aus, aber sie zieht keine analytische Konsequenz für ihre Bewertung der Massenkultur daraus.

Dafür besticht sie mit einem Close Reading ihrer Gegenstände und Quellen. Das ist Literaturinterpretation vom Feinsten, ungemein gelehrt und aus den Einzelheiten und Kleinigkeiten das Letzte durch dichte Beschreibungen herausholend. Daraus entstehen schmucke Vignetten: Die Operette war der Ursprung des Schlagers; der Cancan der Tanz der Revolte; die literarische Gattung der "Physiologien", also der Sondierung des gesellschaftlichen Lebens in der Großstadt, seiner Rhythmen und Gesetzmäßigkeiten, war Vorläuferin der modernen Feuilletons.

Die Autorin taucht regelrecht in die Welt der Operettenmonarchien ein und besucht beispielsweise Offenbachs "La vie parisienne" (1866), das, symbolisch für die Beschleunigung des Verkehrs, auf einem Bahnhof spielte, was bereits zuvor in verschiedenen Boulevardtheatern probiert worden war. Sie lauscht den Hits und Ohrwürmern mit den endlos variierten Zweiviertel- und Dreivierteltakten, die den mechanisierten Zeitrhythmus reproduzierten. Oder sie wohnt der Wiener Vorkriegszeit von Lehárs "Lustiger Witwe" bei, die 1905 mit der verwickelten Liebesdramaturgie und rasanten Tanzeinlagen zum Trendsetter und zur Serienvorlage wurde, aber auch als "Marseillaise des Konservatismus" verspottet wurde.

"Die Lichtreklame geht an einem Himmel auf, in dem es keine Engel mehr gibt"

Das alles wird in flüssiger Prosa erzählt. Manchmal jedoch sind Sätze überladen, zu viel weiß die Autorin und zu viel will sie mitteilen. Ihre Vitalität wirkt zuweilen erschöpfend. Auf Zusammenfassungen ihrer Argumente verzichtet Matala de Mazza. Sogar das Schlusswort, wo doch der Reisezyklus geschlossen wird, wenn es um die Wiederaufnahme der Operette im Feuilleton der 1920er-Jahre geht, plätschert einfach aus. Es stellt auch keine theoretischen Überlegungen zum Formwandel der Öffentlichkeit in der Moderne an, sondern versinkt erneut in Einzelheiten, die vom Material bestimmt sind.

Und doch ist es ein Buch, das anschaulich und materialreich vermittelt, wie an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten der Pariser, Wiener und Berliner Moderne Massenkultur und Massendemokratie Hand in Hand gehen: Philosophie in Revueform und Kultur für alle! Auf dem Boulevard wurde die Gesellschaft zum Theater und das Theater zur Gesellschaft. Matala de Mazza zeigt differenzierte Formen der Öffentlichkeit, die mit den Adjektiven "bürgerlich" oder "kulturindustriell" nur unvollständig zu beschreiben sind. Bereits in Kracauers Reiseführer steht: "Die Lichtreklame geht an einem Himmel auf, in dem es keine Engel mehr gibt, aber auch nicht nur das Geschäft."

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