Süddeutsche Zeitung

Preis des Nordischen Rates für Niviaq Korneliussen:Kolonisierter Norden

Der wichtigste Literaturpreis Nordeuropas geht zum ersten Mal in seiner Geschichte an eine Grönländerin: Niviaq Korneliussen trifft den Ton ihrer Generation und der politischen Auseinandersetzung unserer Zeit.

Von Sophie Wennerscheid

Große Freude auf allen Seiten. Die grönländische Autorin Niviaq Korneliussen hat den wichtigsten Literaturpreis der nordeuropäischen Länder, den Literaturpreis des Nordischen Rats, erhalten. Damit ging der Preis erstmals in seiner fast 60-jährigen Geschichte nach Grönland. Das war nicht nur kulturpolitisch überfällig, sondern ist auch literarisch mehr als wohlverdient. In ihrem mit dem Preis gewürdigten Roman "Naasuliardarpi" ("Das Blumental"), der 2020 in eigener Übertragung der Autorin auf Grönländisch und Dänisch erschien, erzählt Korneliussen mit großer emotionaler Wucht von einem der größten Probleme Grönlands: Jedes Jahr begehen in dem Land mit seinen rund 56 000 Einwohnern so viele Menschen Suizid, dass Grönland die höchste Suizidrate der Welt hat. 2019 waren es 45, meist junge Menschen, die sich das Leben genommen haben.

Diese Zahl, 45, macht Korneliussen zum zentralen strukturierenden Element ihres Romans. Unerbittlich zählt er von 45 runter zur 1, dem letzten der erzählten Tode, dem Tod der Ich-Erzählerin, die namenlos bleibt. Der erste Suizid, die Nummer 45, wird in drei kalten Wörtern wiedergegeben: "Frau. 38 Jahre. Erhängt." Danach erfahren wir Schritt für Schritt mehr über die einzelnen Schicksale, wenngleich nicht unbedingt mehr über die jeweiligen Hintergründe. Genau darin aber liegt die Stärke dieses eigentümlich eindringlichen Romans. In kurzen Sätzen, die immer gleich zum Kern des Gemeinten führen, wird von den sozialen und persönlichen Nöten der Menschen in der postkolonialen grönländischen Gesellschaft erzählt, ohne dass wir nähere Erläuterungen oder gar Wertungen der Tat erhalten.

Am nächsten kommen wir als Leserin der jungen Ich-Erzählerin, die sich auf ihr Studium der Anthropologie im dänischen Aarhus vorbereitet, sich dann aber in Maliina, eine Frau aus der kleinen ostgrönländischen Stadt Tasiilaq verliebt. Als Maliinas Cousine Suizid begeht, fliegt das Paar kurzentschlossen nach Ostgrönland. Hier lernt die aus der Hauptstadt Nuuk stammende Erzählerin eine ihr unbekannte Welt bizarrer Schönheit und fremder Kultur kennen, zu der sie sich hingezogen fühlt.

Alle Hoffnungen richten sich auf Dänemark, wo man verächtlich auf die Grönländer schaut

Als sie das Blumental, einen von hohen Eisbergen umgebenen Ort, besucht, in dem in dem kurzen grönländischen Sommer die Blumen blühen und im Winter blaue, rote und rosa Plastikblumen auf den Gräbern des kleinen Friedhofs im Schnee leuchten, überfällt sie ein wütender Todeswunsch. Wozu leben in einer Welt, in der das eigene Leben nichts zu zählen scheint, die Regierung sich der Probleme nicht ernsthaft annimmt und die Hoffnung sich auf ein Leben in Dänemark richtet, in dem Grönländer als faul, versoffen und primitiv gelten?

Korneliussens Roman gibt eine Vorstellung davon, wie Grönländerinnen auf Dänen und Däninnen auf Grönländer schauen. Und Grönländerinnen aufeinander. Schön und verständnisvoll sind diese Blicke selten. Aber so stark und berührend erzählt, dass durch all die Wut und Verzweiflung, die Vorurteile und dunklen Gedanken hindurch doch auch immer eine unbändige Lust auf Leben, auf Erleben, Freundschaft, Liebe und Begehren sichtbar wird.

Dass die 1990 geborene Niviaq Korneliussen eine Autorin ist, die den Ton ihrer Generation in wortknappen Dialogen und trotzdem vielsagenden Szenen zu treffen vermag, hat sie bereits in ihrem ersten Roman, "Homo sapienne" gezeigt. 2014 in Grönland und Dänemark herausgekommen, und 2016 unter dem Titel "Nuuk #ohne Filter" in dem Wiener Verlag Zaglossus auf Deutsch erschienen, lässt Korneliussen uns hier an dem Leben fünf junger queerer Menschen aus Nuuk teilnehmen, die mit Witz, Wut und Weltschmerz ihren Ort im Leben zu gestalten versuchen. In "Das Blumental" weitet sich die Perspektive. Wir bekommen Einblick in die verschiedenen sozialen Schichten, Generationen und Traditionen eines Landes, das noch immer versucht, sich gegenüber dänischer Vorherrschaft zu behaupten.

Dass der Roman 2021 als wichtigstes Werk der nordeuropäischen Literatur geehrt wurde, hat insofern auch eine besondere politische Bedeutung. 300 Jahre nach der Ankunft des norwegisch-dänischen Pastors Hans Egede auf Grönland, mit der die Missionierung und Kolonialisierung Grönlands begann, wird 2021 noch einmal besonders intensiv mit der Frage gerungen, wie mit dem Ereignis umzugehen ist. Schon im Jahr zuvor wurde, ausgelöst durch die Black-Lives-Matter-Bewegung, die im Kolonialhafen von Nuuk prominent platzierte Statue Egedes mit roter Farbe besprüht und mit dem Schriftzug "Decolonize" versehen.

Viele wollten die Statue ins Museum verfrachtet wissen, letztlich stimmte eine Mehrzahl der Einwohner Nuuks aber dafür, sie an ihrem angestammten Platz zu belassen. Die Diskussion um das koloniale Erbe ist damit aber nicht zu Ende. Korneliussens Roman wird seinen Teil dazu beitragen, sie lebendig zu halten.

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