Das Telefon dürfte beim Autor Patrick Modiano etwa so überraschend geklingelt haben wie am Anfang seines gerade erschienenen neuen Romans "Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier" (Dass du dich nur nicht im Viertel verlierst). Ein Mann liegt dort in der Zurückgezogenheit seiner Wohnung, als das seit Langem stumme Telefon klingelt und der Anrufer ihm das vor Kurzem verlorene Adressbuch zurückbringen will. Woraus eine jener aus dem Halbdunkel der Erinnerung aufsteigenden Geschichten sich knüpft, die Modiano so meisterhaft beherrscht.
Dem Anruf aus Stockholm wird dagegen nun viel Scheinwerferlicht folgen, das der diskrete Autor Modiano bisher eher gemieden hat. Er war zwar in früheren Jahren mitunter im Gespräch als möglicher Nobelpreiskandidat und kam auch diesmal wieder auf die Liste - allerdings erst vor drei Tagen, praktisch im letzten Moment. Dieser seit über dreißig Jahren mit fast ebenso vielen Romanen in der Literatur präsente Autor hat sein treues, aber eher überschaubares Leserpublikum.
Anwärter auf den Literaturnobelpreis 2014:Gefeiert und verbannt
Die eine befasst sich mit der erotischen Selbstfindung arabischer Frauen, der andere mit der Sexualität männlicher Juden. Manche werden gefeiert, andere wurden in die Isolation gezwungen. Die Favoriten für den Literaturnobelpreis könnten unterschiedlicher kaum sein.
Dass das Nobelpreiskomitee ihn nun jäh ins Rampenlicht rückt, zeugt von Mut, mit dem die Akademie sich manchmal wohl selbst überrascht. Zumal vor erst sechs Jahren ein anderer Franzose, J. M. G. Le Clézio, überraschend den Nobelpreis erhielt.
Abwesende Helden
Im Unterschied zum großen Weltenfahrer Le Clézio ist Modiano ein Kundschafter der verborgenen Quartierwege in Paris, die in seiner Literatur allerdings den weiten Kontinent des Gedächtnisses und der Geschichte des mittleren 20. Jahrhunderts durchziehen. Seine Erzählungen kreisen zwar stets um den gleichen Kern - die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und die Folgen gleich danach -, aber das wird bei Modiano zu einer allgemeinen "Kunst des Erinnerns" ausgeweitet, wie das Nobelpreiskomitee in seiner Begründung es treffend nennt. Modiano liest die Spuren menschlicher Existenz aus den unscheinbaren Objekten einer Straßenkreuzung, einer Hinterhoftreppe oder eines Bartresens.
Seine Helden sind Abwesende, selbst wenn sie im Roman gerade noch da sind: Abwesende, die in ihren Spuren und flüchtigen Gesten präsenter sind als in ihrem unmittelbaren Erscheinen. Von ihren persönlichen Geschichten, ihrem Schicksal und manchmal auch ihrem Namen her scheinen sie immer wieder in die Richtung des Verschwindens in der Schoah zu weisen. Doch unterscheiden sie sich durch die Lautlosigkeit und das Fehlen der emphatischen Tragik und stellen sich dazu mitunter sogar in grellen Kontrast.
Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano:Autor gegen das Vergessen
Klar statt komplex, knapp statt ausufernd, so sind Sprache und Werk von Patrick Modiano. Nun bekommt der Franzose den Literaturnobelpreis - obwohl er angeblich "seit mehr als 40 Jahren" immer wieder "fast den gleichen Roman" vorlegt.
So war das schon im kühnen Erstlingsroman "La Place de l'Étoile", mit dem der damals dreiundzwanzigjährige Autor 1968 schlagartig bekannt wurde. Der Jude Raphaël Schlémilovitch, teilweise nach dem Vorbild des französischen Schriftstellers Maurice Sachs gezeichnet, verkehrt darin mit den antisemitischen Autoren Céline und Lucien Rebatet und sucht auch Sigmund Freud auf, um von seiner "jüdischen Neurose" loszukommen. Die Wirkung dieses anrüchigen Romans - über dessen Virulenz der Autor Modiano sich heute selber aufrichtig wundert - versprach ein eher skandalträchtiges neues Schriftstellertalent am Horizont der französischen Literatur.
Das Gegenteil ist eingetreten. Nicht nur, dass Modiano das Schrille meidet, den Medien ausweicht und so gut wie keine Interviews gibt - sein ganzes weiteres Schreiben tauchte ins Zwielicht der Pariser Stadttopografie ein, wo verblichene Dramen und längst verhallte Schreie hängen geblieben zu sein scheinen. Der Roman "Dora Bruder" (1997) begab sich auf die Spuren einer verschollenen jungen Frau. In "Vorraum der Kindheit" (1992) gerät ein Mann in seine Kindheit unter politisch unklaren Verhältnissen. Im Buch "Aus tiefstem Vergessen" (1996) steht ein Mann in der Métro plötzlich seiner Jugendliebe von vor dreißig Jahren gegenüber, die ihn in die Windungen der Vergangenheit hineinzieht. Manchmal wurde diese Literatur mit dem Werk des Installationskünstlers Christian Boltanski verglichen: ein ähnliches Schweigen, eine ähnliche Suggestionskraft, jedoch in der schwerelosen Erscheinung gut lesbarer Geschichten.
Der 1945 in Paris geborene Modiano, der sich manchmal als "Halbjude und Halbflame" bezeichnet, um die Wurzellosigkeit seiner Herkunft auszudrücken, liefert den Gegenentwurf zur aktuellen Sondierungsliteratur, die über persönliche Erinnerung allgemeine Vergangenheitsfetzen ans Licht bringen will. Alles ist bei ihm zwar aus persönlicher Erfahrung eingefärbt, aber aus Dokumenten, Büchern, Zeitungsausschnitten zusammengetragen und kunstvoll zusammengefügt. Sein Arbeitszimmer in seiner Wohnung unweit des Pariser Jardin du Luxembourg ist eine bis zur hohen Decke reichende Bücherwelt aus bekannten und entlegensten Zeugnissen. Modiano ist ein Sammler im Sinne Walter Benjamins, doch sammelt er nicht Dinge, sondern Atmosphären, Stimmungen, Schwingungen am Punkt des Verhallens.
Nähere Aufschlüsse über den Zusammenhang zwischen seiner eigenen Biografie und seinen Büchern gab er 2005 in "Ein Stammbaum". Es war ein beinah stenografisch erzählter Lebensbericht seiner Kindheit und Jugend, der sich allerdings seinerseits schnell aufs Terrain des Spurenlesens begibt. Die hoffnungslos halbglücklichen Kinderjahre in der Wohnung des - damals noch gar nicht so noblen - Quai de Conti hinter dem Institut de France, hauptsächlich in Obhut der Großeltern aus Flandern, sporadisch anwesende Eltern, ein früh verstorbener Bruder und endlose Entdeckungszüge durchs intellektuelle Paris Sartres, Boris Vians, Raymond Queneaus: Alles ist faktisch richtig in diesem Bericht und bezeugt gleichzeitig das Bewusstsein einer radikal ungewissen Identität.
Wie Queneau, unter dessen weisendem Blick er in die Literatur hineinwuchs, "war ich nur wirklich ich selbst, wenn ich allein durch die Straßen ging", heißt es in "Ein Stammbaum", der alles andere ist als das.
Mit seiner Medienscheu, seiner Abneigung gegen alle nicht literarischen Verlautbarungen eines Schriftstellers und seiner flaneurhaften Konzentration aufs Werk - am häufigsten trifft man ihn auf der Straße und in Buchhandlungen - hat Patrick Modiano so gut wie keine Feinde in der französischen Literaturszene. Distanzierte oder aufrichtig bewundernde Anerkennung für ein fein ausgearbeitetes Werk waren denn auch, gemischt mit einiger Überraschung, die ersten Reaktionen im Land nach der Verkündung des Nobelpreises. Dass dieser eher untypische Autor den Sprung zur Weltberühmtheit schaffte, ließ die Menschen in den Redaktionen, Verlagen und Regierungskabinetten erst einmal kurz schlucken. Im Unterschied zu den französischen Nobelpreisvorgängern gab es am Donnerstagnachmittag in Paris keinen Wirbel um improvisierte Pressekonferenzen. Der Gekürte blieb vorerst stumm, die wahren Literaturfreunde freuten sich im Stillen, Rundfunk- und Fernsehanstalten mussten sich mit Archivaufnahmen vertrösten. Auch so kann ein großes Literaturereignis aussehen.
Besonders erfreulich ist der Nobelpreisentscheid auch für Modianos deutschen Verlag Hanser, der den Autor seit vielen Jahren ohne große Bestsellerträume beständig und sehr zeitnah zu den Originalausgaben herausbringt. Es kann geradezu exemplarisch genannt werden, wie hier ein Schriftsteller, von dem ein Verlag überzeugt ist, über die Jahre kontinuierlich auch in Deutschland Leser gewinnen konnte.
Nicht unwesentlich dabei ist auch seine Übersetzerin Elisabeth Edl, die ihr stetes Engagement mit Sachkompetenz und einem subtilen Verständnis für die feinen Nebenklänge in Modianos Schreiben verbindet. Solche Glücksfälle im Zusammenwirken von Autor, Verlag und Übersetzer über einen so langen Zeitraum hinweg sind eher selten. Das Nobelpreiskomitee wiederum erfüllt seine Rolle, indem es mitunter auch Autoren vom Rand in den Mittelpunkt stellt. In manchen Fällen war das in den vergangenen Jahren eher kurios. In Gestalt Patrick Modianos bedeutet es den Beweis, dass man auch ohne große Auftritte, Polemiken und Skandale mit Literatur Schlagzeilen machen kann - Schlagzeilen allerdings, die auch schnell wieder verblassen und dann guten Texten den Platz überlassen. An solchen ist beim diesjährigen Nobelpreisträger kein Mangel.