Süddeutsche Zeitung

Literaturnobelpreis:Keine Lust auf tägliches Gequake

Es ist kein Zufall, dass Louise Glück den Applaus scheut. Und ein Blick auf die Preisträgerinnen und Preisträger der vergangenen Jahre erklärt einiges über die Stockholmer Jury. Oder kann es sein, dass der nimmermüde deutsche Wille zur Ideologiekritik vielleicht gar nicht sein muss?

Von Marie Schmidt

Als die Dichterin Louise Glück am Donnerstagmorgen in Cambridge, Massachusetts, erwachte, fand sie die Straße vor ihrem Haus voller Journalisten wieder. Die Welt wollte wissen: Wer ist Louise Glück und wie geht es ihr mit dem Nobelpreis? Wenn sie Applaus bekomme, denke sie immer, dass etwas falsch sei an ihren Gedichten, hat sie einmal gesagt. So eine Öffentlichkeitsscheu ist nicht ohne Vorbilder unter Dichterinnen. In einer anderen Zeit in einem anderen Zimmer in Massachusetts schrieb Emily Dickinson die berühmte Strophe: "Wie öde - Jemand - sein! / Ein Junileben lang - / Den eigenen Namen auszuquaken - für den Applaus im Schlamm". Der Schlamm, das steht für das speichelleckende Publikum. Aber ob sie will oder nicht, Louise Glück hat jetzt eine Menge Leser dazubekommen, zumal in der nicht-englischsprachigen Welt, wo sie bis Donnerstag nahezu unbekannt war.

Und die Schwedische Akademie, die über den Literaturnobelpreis entscheidet, hat sich womöglich einen lange gehegten Wunsch erfüllt. Schon letztes Jahr hätte die Wahl mit Peter "Bin im Wald" Handke auf eine Ästhetik des dem tagtäglichen Gequake der Meinungen Enthobenen fallen sollen. Wäre nicht schlecht gewesen nach den Skandalen in dieser literarischen Institution wegen Filz und sexueller Übergriffe, den umstrittenen früheren Entscheidungen für Bob Dylan 2016 und die vor allem durch Reportagen berühmte Swetlana Alexijewitsch 2015. Das ging schief, man hatte da ein paar missliche Texte Handkes über Serbien in den jugoslawischen Zerfallskriegen vergessen, die öffentliche Empörung war groß. Neuer Versuch: Louise Glücks "poetische Stimme von asketischer Schönheit", ihre Themen sind tagespolitisch gesehen risikoarm: Familie, Natur, Liebe und Tod, Mythen.

Es gehe ihr nicht um ihre eigenen Gefühle, sagte die frisch gekürte Nobelpreisträgerin der New York Times: "sondern um die Mühen und Freuden der Menschen, die geboren und dann gezwungen werden, wieder zu gehen". In dem englischen Wort "human" schwingt die Vorstellung mit, es gäbe über alles Partikulare hinweg "dem Leben" eigene Gefühle und Existenzbedingungen. Eine "Geworfenheit", wie man in der europäischen Terminologie einer anderen Zeit gesagt hätte - allerdings eine amerikanisch durchtherapierte Version davon. In ihren Umschriften des Persephone-Mythos schreibt Louise Glück: "Die Figuren / sind keine Menschen. / Sie sind Aspekte eines Zwiespalts oder Streits. // Drei Parteien: ganz wie die Seele / Ich, Überich, Es." Die Geschichte, wie Hades der Demeter die Persephone raubt, dichtet Glück um in den psychologischen Plot der Mutter-Tochter-Beziehung, in der die Tochter in der kalten Welt, die ihr ein erster Liebhaber erschafft, erwachsen wird: "Sie weiß durchaus, dass die Erde / von Müttern betrieben wird, so viel / steht fest. Sie weiß auch, / dass sie nicht länger ist, was man / ein Mädchen nennt. Was Einkerkerung / angeht, glaubt sie, // dass sie, als Tochter, von Anfang an eine Gefangene war."

"...weil der Körper einer Frau / ein Grab ist..."

Naheliegend wäre es, in ihren Gedichten spezifisch weibliche Existenzprobleme und Genealogien zu suchen. Allerdings hatte die weibliche "confessional poetry" der 50er- und 60er-Jahre, das Schreiben aus der Verletzung heraus, in Zeiten harter gesellschaftlicher Normen und Tabus mehr Punch. Von Louise Glück gibt es dieses Gedicht über Essstörungen: "Es beginnt leise / in bestimmten weiblichen Kindern: / die Angst vor dem Tod, die die Form / einer Hingabe an den Hunger annimmt, / weil der Körper einer Frau / ein Grab ist; er wird alles / aufnehmen. Ich erinnere mich / wie ich nachts im Bett lag / (...) mit fünfzehn / das störende Fleisch berührte / das ich opfern würde / bis die Glieder frei wären / von Blüten und Tricks: Ich spürte / was ich jetzt spüre, während ich diese Worte aneinanderfüge - / es ist dasselbe Bedürfnis perfekt zu sein, / zu dem der Tod nur Beiwerk ist."

Eine berührende Beschreibung, in der die Dichtung am Ende wie der Hunger dazu da ist, seiner Sterblichkeit bewusst zu bleiben. Eher besinnlich klingt das aber eben doch im Kontrast etwa zum Schock von Sylvia Plaths Gedicht "Edge": "The woman is perfected. / Her dead // Body wears the smile of accomplishment, / The illusion of a Greek necessity // Flows in the scrolls of her toga, / Her bare // Feet seem to be saying: / we have come so far, it is over." "Es ist vorbei" - atemberaubender kann man das Gesellschaftsbild, nach dem nur eine tote Frau eine gute Frau ist, nicht wiedergeben.

Vielleicht tritt man Louise Glücks Gedichten aber sowieso zu nahe, wenn man ihnen mit dem nimmermüden deutschen Willen zur Ideologiekritik kommt. Der Literaturwissenschaftler Carlos Spoerhase hat in seiner Analyse pastoraler Gedichte, die in Glücks Band "A Village Life" 2010 erschienen sind, die schlagende Beobachtung gemacht, dass das eigentliche ästhetische Ideal ihrer Gedichte sich nicht so sehr gegen die Gesellschaft richtet oder außerhalb, in einer einfacheren, dörflichen Welt liegt. Es bestehe vielmehr in einer vollkommen "menschenfremden Natur-Schönheit", dem "Gegenstand einer ,reinen' ästhetischen Kontemplation, die im Gegensatz zur Haltung eines nostalgischen Subjekts eines Naturversprechens nicht mehr bedarf". Die Auflösung der Dichterin im dichterischen Akt, "calm meeting calm, detachment meeting detachment": das ist die poetische Haltung, die im Epidemie- und Trump-Wahljahr, dem Jahr der Ungewissheit und maximalen Aufgeregtheit, den berühmtesten Literaturpreis der Welt bekommen hat. Ist das noch Eskapismus oder schon ein suizidaler Zug der Institution, die ihn vergibt?

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SZ vom 10.10.2020/tmh
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