Süddeutsche Zeitung

Literaturnobelpreis:Im Sturm

Die von Skandalen erschütterte Schwedische Akademie vergab in diesem Jahr zwei Preise. Die umstrittene Auszeichnung für Peter Handke machte Literatur zum Politikum.

Von Lothar Müller

Der Literaturnobelpreis für das Jahr 2019 war von dem Skandal überschattet, der im Vorjahr die Schwedische Akademie erschüttert hatte. Korruptionsvorwürfe, Toleranz gegenüber sexuellen Übergriffen und der Verdacht, bei früheren Entscheidungen sei die Geheimhaltungspflicht verletzt worden, hatten im Zentrum gestanden. Die Akademie betrieb ein katastrophales Krisenmanagement, zwang ihre Ständige Sekretärin zum Rücktritt und ließ, weil nicht mehr beschlussfähig, den Nobelpreis des Jahres 2018 ausfallen. Zugleich war sie nach der Zuwahl neuer Mitglieder und eines Beratungsgremiums darauf fixiert, den Schein der Kontinuität zu wahren. So gab sie, statt die Leerstelle einer Nicht-Vergabe ihre Krise in die Annalen des Nobelpreises eingehen zu lassen, am 10. Oktober 2019 die Vergabe von gleich zwei Literaturnobelpreisen bekannt. Den nachgetragenen für das Jahr 2018 sprach sie der polnischen Schriftstellerin Olga Tokarczuk zu, den Nobelpreis 2019 dem österreichischen Schriftsteller Peter Handke.

Die Entscheidung für zwei europäische Autoren mochte die Akademie als Beitrag zur Selbstreflexion Europas im Zeichen der Krise seiner Institutionen und seiner internen Polarisierung gemeint haben. Sie mag gehofft haben, damit zugleich zur eigenen Konsolidierung beizutragen. Olga Tokarczuk steht mit ihrem Werk, zumal dem aktuellen Epos "Die Jakobsbücher" über den jüdischen Sektenführer Jakob Frank im 18. Jahrhundert, für eine Literatur, die den historischen Erzählungen des Nationalismus im eigenen Land ins Wort fällt. Und die ersten Kommentare zur Wahl Handkes ließen am literarischen Rang seines Werkes, das innerhalb der Nachkriegsliteratur einen eigensinnigen, aus dem Siegeszug konventioneller Formen des Romans wie des Theaters ausscherenden Sonderweg geht, keinen Zweifel.

Es zeigte sich aber rasch, dass die Akademie mit ihrer im eigenen Interesse getroffen Doppelentscheidung den Autoren das Risiko einer geteilten, schlimmstenfalls asymmetrisch verteilten Aufmerksamkeit zugemutet hatte. So sehr Olga Tokarczuks "Jakobsbücher" und ihre früheren Romane beim Publikum Anklang fanden, so überbordend häuften sich im gleichen Zeitraum die internationalen Kommentare und Artikel zu den Schriften Peter Handkes über den Zerfall Jugoslawiens und die Kriege auf dem Balkan in den Neunzigerjahren. Fast nur von diesen Schriften, in denen er "Gerechtigkeit für Serbien" forderte, sowie vom Treffen Handkes mit dem Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadžić, im Dezember 1996 und von seinem Auftritt beim Begräbnis von Slobodan Milošević im März 2006 war fortan die Rede.

In Deutschland nutzte wenige Tage nach der Verkündung der Nobelpreise der 1978 im bosnischen Višegrad geborene und dort aufgewachsene Schriftsteller Saša Stanišić, der zu Beginn der Frankfurter Buchmesse den Deutschen Buchpreis für seinen Roman "Herkunft" erhielt, seine Dankesrede zu einer scharfen Attacke auf die Schwedische Akademie und auf Peter Handke: "Dass ich hier heute vor Ihnen stehen darf, habe ich einer Wirklichkeit zu verdanken, die sich dieser Mensch nicht angeeignet hat, die aber in seine Texte der Neunzigerjahre hineinreicht. Und das ist komisch, finde ich. Dass man sich die Wirklichkeit, in der man behauptet, Gerechtigkeit für jemanden zu suchen, so zurechtlegt, dass dort nur noch Lüge besteht. Das soll Literatur eigentlich nicht." Zugleich feierte Stanišić Olga Tokarczuk als Repräsentantin einer "Literatur, die alles darf und alles versucht, auch gerade im politischen Kampf mittels Sprache zu streiten".

Handke zog sich in die Unbelangbarkeit des Dichters zurück

Es gelang dem Suhrkamp Verlag mit einer Ende Oktober vorgelegten Dokumentation zu den einschlägigen Schriften und Interviews Handkes zwar, Falschaussagen wie die zu korrigieren, er habe sich dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag als Entlastungszeuge für den Angeklagten Milošević zur Verfügung gestellt. Es konnte dem Verlag aber nicht gelingen, die - in inneren Widersprüchen voranschreitende - Annäherung Handkes an den serbischen Nationalismus zu bestreiten.

Handke selbst zog sich, statt seinerseits einen Rückblick auf seine Schriften zum Zerfall Jugoslawien und den Balkankriegen zu werfen, in die Unbelangbarkeit des Dichters zurück und beschied Nachfragen unwirsch mit der Bemerkung, er komme "von Tolstoi, von Homer und Cervantes her". So galt für die Nobelpreiswoche, die am 10. Dezember in Stockholm mit der Verleihung der Preise ihren Höhepunkt erreichte, der Handke-Titel "Immer noch Sturm". Aber es blieb eher ruhig.

In der Pressekonferenz am 6. Dezember vermied Handke wiederum eine diskursive Auseinandersetzung mit seinen Kritikern. Die Demonstrationen am Tag der Verleihung waren überschaubar. Am Samstag, dem 7. Dezember, an dem beide Nobelpreis-Vorlesungen gehalten wurden, stand Peter Handke im Schatten seiner Vorrednerin Olga Tokarczuk, die unter großem Beifall ihre Poetik einer umfassenden Weltdarstellung unter Berufung auf den Stil der Bibel und aus der Kritik an der aktuellen Dominanz subjektiver Ich-Erzähler entwickelte. Handke beschränkte sich über weite Strecken auf Zitate aus seinem eigenen Werk und - beeindruckende - Reminiszenzen an die Herkunft seiner Autorschaft aus den Erzählungen und Geschichten der Mutter. Die Berufung auf die Mütter als Portalfiguren der eigenen Schriftstellerexistenz verband die beiden ungleichen Reden.

Mit der Verleihung der Urkunden und Medaillen am 10. Dezember an alle Nobelpreisträger durch den schwedischen König im Konzerthaus von Stockholm und dem abendlichen Bankett im Stockholmer Rathaus mündete die Nobelwoche dann in das überkommene Ritual ein, obwohl die Schwedische Akademie alles dafür getan hatte, sich selbst in Frage zu stellen und das Ritual zu sprengen. Zu wünschen bleibt, dass der Ruhm von Olga Tokarczuk weiterhin wächst und dass das Werk von Peter Handke den Nobelpreis des Jahres 2019 überlebt.

Lothar Müller ist Literaturredakteur im Ressort Feuilleton der SZ.

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Quelle:
SZ vom 01.12.2019
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