Literaturnobelpreis 2013 für Alice Munro:Wie erstaunlich, wie schrecklich

Literaturnobelpreis 2013 für Alice Munro

Alice Munro im Juni 2009 in Dublin.

(Foto: AFP)

"Aber es ist doch schon etwas, den Tag überstanden zu haben, ohne dass er zur absoluten Katastrophe wird", heißt es am Ende einer ihrer Erzählungen - "vielleicht". Die Kanadierin Alice Munro erhält den Nobelpreis für Literatur 2013. Warum das Gewöhnliche auch immer das Unheimliche ist und wie dabei gute Geschichten entstehen.

Von Thomas Steinfeld

Einmal verließ Alice Munro ihre Heimat und zog viertausend Kilometer weit nach Westen, nach Victoria auf Vancouver Island, einem für kanadische Verhältnisse fast mondänen Badeort, am Ufer eines Sunds, der hinausgeht auf einen gewaltigen Ozean. Dort betrieb sie eine Buchhandlung, "Munro's Books", und hatte damit sogar Erfolg. Aber es hielt sie nicht lange in heroischen Verhältnissen. Im Jahr 1972, nach knapp einem Jahrzehnt, kehrte sie zurück in die Gegend, in der sie aufgewachsen war: in den Süden der Provinz Ontario, in das flache Land auf der Halbinsel zwischen Toronto und Detroit, auf der Ostseite des Lake Huron.

Bauern gibt es dort, Zulieferindustrie für die Automobilwirtschaft und, auf einer Verkehrsinsel mitten in Clinton, jener Kleinstadt, in der Alice Munro lebt, eine gewaltige Radarantenne aus dem Zweiten Weltkrieg. Man könnte diese Antenne als Allegorie für die Autorschaft der Schriftstellerin Alice Munro verstehen: als ob man die ganze Welt aus Clinton, Ontario, belauschen könne. Tatsächlich aber verlaufen die Verhältnisse umgekehrt: Alice Munro sorgt dafür, dass die ganze Welt sehr viel aus dem "Huron County" erfährt.

Am Donnerstagmittag hat die Schwedische Akademie dieser Schriftstellerin den Nobelpreis für Literatur zugesprochen, für ein Werk, das sich über mehr als sechs Jahrzehnte erstreckt, aber nur einem Genre gewidmet ist: Es ist in einem Dutzend Bänden zusammengefasst und besteht aus Kurzgeschichten, so wie diese in Nordamerika geschrieben werden und allen europäischen Literaturen seltsam fremd bleiben. Diese Geschichten handeln von mehr oder minder alltäglichen Situationen, von der eigenen Familie, manchmal über Generationen, von Menschen, die in Clinton oder Wingham oder Listowel leben oder zumindest leben könnten.

"Es fühlt sich gar nicht schlimm an"

Manchmal sagen diese Menschen Sätze wie "Ich sterbe, wenn das Kleid morgen nicht fertig ist." Oder: "Es fühlt sich gar nicht schlimm an." Jedes Mal, wenn ein solcher Satz kommt, wird dem Leser ein wenig unheimlich: Denn man merkt seiner Gewöhnlichkeit an, dass sie eigentlich an der Stelle von etwas ganz Außerordentlichem, wenn nicht Bedrohlichem steht, dass sie einer existenziellen Herausforderung abgerungen sind, die eigentlich viel wahrscheinlicher wäre als der normale Lauf der Dinge.

Für die Menschen, um die es in diesen Geschichten geht, gibt es ein Wort, das schwer ins Deutsche zu übersetzen ist und in Nordamerika eine etwas andere Bedeutung hat als im Englischen. Sie heißen "people". Diese "people" sind nicht "Leute", und sie sind auch nicht "Volk", sondern irgendetwas dazwischen - das Wort ist ähnlich wie das amerikanische "domestic", dessen Bedeutung sich irgendwo zwischen "häuslich" und "innenpolitisch" befindet.

"People" also sind der eigentliche Gegenstand dieser Geschichten, was auf der einen Seite bedeutet, dass ihnen etwas von Gattung anhaftet oder dass sie ähnlich oder vergleichbar sind. Und auf der anderen Seite leuchtet an ihnen doch, und manchmal unter den seltsamsten, auch unangenehmsten Umständen, ein Äußerstes an Individualität auf, etwas Einzigartiges und Kostbares, an dem einem Leser dann plötzlich so viel liegt, dass er das Banale, ja sogar das Gemeine als eine höhere Form der Anmut zu akzeptieren bereit ist. In dieser doppelten Gestalt, als Gattungswesen und höchst verfeinerte Einzelwesen, stolpern die Figuren Alice Munros durch ein Leben, das ihnen oft genug als reichlich diffuse, neblige Veranstaltung entgegentritt.

"Aber es ist doch schon etwas, den Tag überstanden zu haben, ohne dass er zur absoluten Katastrophe wird", heißt es am Ende einer Geschichte mit dem Titel "Tieflöcher". Aber dann wird dieser ironischen Gemütlichkeit ein "vielleicht" angehängt, so dass sie mitten zwischen der Behaglichkeit, die im Verzehr einer Portion Lasagne und eines Glas Weins liegen mag, und einer Einladung zur Höllenfahrt stehenbleibt.

Zwischen Mitgefühl und Härte

Die meisten Figuren in den Geschichten von Alice Munro, und fast alle ihrer Protagonisten, sind Frauen. Viele von ihnen führen prekäre Existenzen, in einem Wohnwagen in der Wildnis, als Musiklehrerin ohne feste Anstellungen. Vermutlich ist es Unsinn, in der Literatur grundsätzlich zwischen männlicher und weiblicher Perspektive unterscheiden zu wollen. Aber wenn es letztere gäbe, dann zeichnete sie sich bei Alice Munro durch eine manchmal schon bizarre Verbindung von Mitgefühl mit einer Härte aus, wie sie einer Pathologin gut anstünde. Im Übrigen passt es zu Alice Munro, dass sie vor kurzem erklärte, mit dem Schreiben aufhören zu wollen: Sie muss das Schreiben von "stories" als Arbeit verstanden haben.

Die Kurzgeschichte ist eine amerikanische Anverwandlung der Novelle. Die Novelle ist aristokratisch. Sie handelt zwar zuweilen von gewöhnlichen Menschen, aber sie paktiert mit dem Schicksal, so wie es plötzlich zuschlägt, mit der Liebe und mit Falken, und sie ist für ein gebildetes, müßiges Publikum geschrieben - also für ganz andere Menschen als denen, von den sie erzählt. In der Kurzgeschichte hingegen verblasst das Schicksal und ist zuweilen nur noch als kleines Zittern im gewöhnlichen Gang der Dinge erhalten. Ihr Fokus ist eng, sie verlangt keine finale Pointe, und manchmal geschieht sogar so wenig, dass man es beinahe für nichts halten könnte.

Eine unglückliche Äußerung

Alice Munro ist deswegen oft mit Anton Tschechow verglichen worden. An diesem Vergleich ist etwas dran, nicht nur, weil die ästhetische Konzentration auf das Alltägliche, seine Verwandlung in einen erzählenswerten Gegenstand nicht zu haben ist, ohne dass dieses dadurch einen elegischen Zug annähme. Sondern auch, weil diese Konzentration einen scheinbar ebenso unbeteiligten wie allwissenden Erzähler verlangt, einen Berichterstatter, der mit der von ihm erzählten Welt einen sehr abgründigen Frieden geschlossen haben muss.

In Stockholm heißt es, die Schwedische Akademie habe sich mit der Entscheidung für Alice Munro schwergetan. Ob dieses Gerücht zutrifft, wird man erst in fünfzig Jahren erfahren, wenn ihre Akten öffentlich werden. Aber es sprechen viele Gründe für dieses Gerede. Nicht, dass Alice Munro eine unwürdige Preisträgerin wäre, überhaupt nicht.

Aber da war vor einigen Jahren die unglückliche Äußerung Horace Engdahls, des ehemaligen Sprechers der Schwedischen Akademie, der die amerikanische Literatur für "unwissend", sich nicht auf dem Stand der Zeit befindend und also "abgelegen" erklärte - womit dann Autoren wie Philip Roth, Don DeLillo und der damals noch lebende John Updike hinter dem Horizont der Akademie verschwanden, obwohl jeder von ihnen doch die Weltliteratur verändert hatte. Da war vor zwei Jahren die Entscheidung für den schwedischen Lyriker Tomas Tranströmer, die in den USA als ausgesprochen - um das Wort noch einmal zu benutzen - "domestic" wahrgenommen wurde. Und da war im vergangenen Jahr der Streit um die politische Zuverlässigkeit des chinesischen Preisträgers Mo Yan, der, obwohl in der Sache unbegründet, doch einen Schatten auf die Akademie warf.

Kanadische Erfahrung der Enge, mittlerweile global

Clinton, Ontario, eine kleine Stadt von dreitausend Einwohnern liegt gut hundert Kilometer von Sarnia am St. Clair River entfernt, dem nächsten Grenzübergang in die USA. Knapper hätte man den Nachbarn nicht vermeiden können. Zugleich aber ist die kanadische Literatur ganz anders als die amerikanische, und zwar auch dann, wenn sie anglophon ist. Der berühmte Literaturwissenschaftler Northrop Frye, in Toronto zu Hause, erfand dafür in den Sechzigerjahren die Kategorie der "garrison mentality", der "Garnisonsmentalität", die von zwei Bedrohungen geprägt sei: der Wildnis, die jenseits eines schmalen, zivilisierten Streifens nördlich der amerikanischen Grenze beginne und gar nicht mehr aufhöre; und der allseitigen Überlegenheit der Nation im Süden. Dazwischen bilde sich ein Bewusstsein, das gleichermaßen geprägt sei von einer übergroßen Wachheit, dem Außen gegenüber, und dem Bedürfnis, sich zumindest "metaphorisch" in kleinen Verhältnissen einzuschließen. Einige Jahrzehnte lang galt diese Kategorie als altmodisch, vielleicht zu Unrecht.

Bislang war Alice Munro zumindest in Deutschland eine Schriftstellerin, die zwar gelesen und geschätzt, aber nicht zu den wirklich großen Autoren unserer Zeit gezählt wurde - und das, obwohl fast ihr gesamtes Werk schon seit geraumer Zeit in den ausgezeichneten Übersetzungen von Heidi Zernig vorliegt. Wenn sich das jetzt ändern wird - und es spricht viel dafür -, dann wird das auch daran liegen, dass sich eine spezifisch kanadische Erfahrung der Enge mittlerweile so leicht auf globale Verhältnisse übertragen lässt. "Wie erstaunlich das ist. Wie nah am Erschrecken", heißt es in der Erzählung "Entscheidung", deren Rahmen eine Zugfahrt von Vancouver nach Osten bildet. Sie endet mit dem Beginn einer Freundschaft.

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