Literaturgeschichte:Mit Java telefonieren

Iwan-Michelangelo D'Aprile erzählt das Leben Theodor Fontanes auf neue Weise. Er porträtiert ein "Jahrhundert in Bewegung" und zeigt, warum so viele Fontane-Figuren einen Knacks haben. Es ist der Knacks der Moderne.

Von Stephan Speicher

Cover für die Literaturbeilage ET 27.11.2018

Iwan-Michelangelo D’Aprile: Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung. Rowohlt Verlag, Reinbek 2018. 544 Seiten, 28 Euro.

Im November 1895, gerade war "Effi Briest" erschienen, beschrieb Theodor Fontane seine Sympathie für die Titelfigur und ihre Schwestern. Das Natürliche habe es ihm seit Langem angetan, das sei der Grund, "warum meine Frauengestalten alle einen Knacks weghaben". Und weiter: "Sehr viel gilt mir auch die Ehrlichkeit, der man bei den Magdalenen mehr begegnet als bei den Genoveven."

Und Ehrlichkeit gesteht man auch dem Autor gern zu, seine kolloquiale Sprache hat so etwas Vertrauensvolles und Vertrauenswürdiges. Darin kann man sich aber auch täuschen. Gerade ist eine neue Fontane Biografie erschienen, verfasst von Iwan-Michelangelo D'Aprile, der in Potsdam eine Professur für Kulturen der Aufklärung innehat: "Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung". Zu den Leistungen D'Apriles gehört es, die Fontaneschen Selbstauskünfte nicht für bare Münze zu nehmen, sondern in manchen von ihnen die Selbstmystifikationen zu erkennen.

In dem oben zitierten Brief an Colmar Grünhagen, Archivar in Breslau, heißt es über den schlesischen Adel: "Es sind keine Tugendmeier, was mir immer wohltut." Und da ist es doch höchst interessant, dass auch der Autor selbst nicht immer tugendmeierlich war. Er hatte zwei uneheliche Kinder, aber mit der Ehrlichkeit war es dann nicht mehr weit her; nicht erst Ehefrau und Nachfahren versuchten, alle Spuren zu verwischen.

Muss das den heutigen Leser überhaupt interessieren? Doch, das ist mehr als bloßer Biografismus, denn es zeigt, unter welchen Zwängen die Epoche Fontanes steht, was dessen Figuren bedrängt. Dass der Autor ein echter 1848er war und dies später in seinen Erinnerungen camouflierte, weil er bald darauf als Journalist in den Dienst des preußischen Staates trat als (in London haftete ihm das Etikett vom "Regierungs-Schweinehund" an, nicht unverdient, wie er selbst fand: "das bin ich nämlich"), dass er in den 1860er-Jahren bei der Kreuzzeitung, die D'Aprile als ein politisch-moralisch ziemlich niedriges Produkt beschreibt, stärker engagiert war, als er später durchblicken ließ - das will man doch wissen.

D'Aprile hat einen feinen Sinn für das, was in der Lebensgeschichte bedeutungsvoll ist für das Werk. Fontane hatte wie sein Vater eine Apotheker-Ausbildung durchlaufen, auf hohem Niveau und mit einem guten Abschluss. Das schüttelt sich nicht leicht ab. Im September 1889 besuchte der Schriftsteller Emil Rittershaus Fontane und machte eine "gute Bemerkung" über Ibsen, der in seinen Stücken wie ein Apotheker wirke, "der abwartet, dribbelt (trippelt) und auf der Lauer liegt". Fontane dazu: "Vollkommen richtig, und ich musste laut lachen, schon um hinter der großen Lache meine eigne Angst zu verbergen."

Da sind die Schattenseiten des Berufs bezeichnet. D'Aprile deutet die Apotheker-Vergangenheit für Fontane von der anderen, der modernen, naturwissenschaftlichen Seite. Hier ist die Sorgfalt, das Wissen um die richtige Mischung (die Dosis macht das Gift), die sich in den langen gründlichen Überarbeitungen zeigt, die der Autor den Manuskripten angedeihen ließ, die sprachliche Arbeit mit der Apothekerwaage. Und hier ist die Notwendigkeit, im Labor jede möglicherweise notwendige Substanz bereitzuhalten. So sammelte Fontane unentwegt Anekdoten, Szenen, Figuren, Motive - Stoffliches, das sich womöglich einmal würde verarbeiten lassen. Das alles wurde aufbewahrt in zahlreichen kleinen Pappkästchen und Schachteln, die der Autor selbst herstellte, er sprach davon, dass er seine Werke "nach Rezept zusammenleimt".

Seine preußischen Helden bestechen dank eigener Tatkraft, nicht dank der Ahnen

Es war eine Arbeit ohne Geniegehabe. Zur Montagetechnik gehört, dass fremde Mitarbeit integriert wurde, Mitarbeit, nicht bloß Vorarbeiten, jedenfalls bei den "Wanderungen". Nicht nur verschickte der Autor Fragebögen und Formulare in Tabellenform, er stützte sich auch auf "über die halbe Provinz hin zerstreute Mitarbeiter (...), die sich's nicht bloß angelegen sein ließen, mir den Stoff, sondern ebendiesen Stoff auch in der ihm zuständigen Form zu geben". Und wirklich ist manches, was sich ganz fontanesch liest, von dritter Hand.

Wie schon der Untertitel "Ein Jahrhundert in Bewegung" andeutet, beschreibt D'Aprile Fontane als Parteigänger der Moderne. Selbst die Balladen aus der brandenburgisch-preußischen Geschichte, über Derfflinger, den alten Dessauer, Zieten oder Seydlitz deutet er so. Die Männer, die hier gerühmt werden, sind derb und tüchtig, nicht die Ahnen sprechen für sie, sondern ihre höchst eigene Tatkraft, in ihrer Volkstümlichkeit fügen sie sich in das bürgerliche Bild Friedrichs des Großen, dass in diesen Jahren Kugler entwarf und Menzel illustrierte.

Und dann vor allem hat, was genuin modern ist, die ganze Sympathie Fontanes. Die Eisenbahn nennt er in den 1840er Jahren "die großartigste Erfindung unserer Tage", für die Postkutschenromantik hat er nur Verachtung. Im letzten Roman, dem "Stechlin", drückt er den eigentümlichen Zusammenhang, in dem der Stechlin-See mit der natürlichen wie geschichtlichen Welt steht, technisch aus, "da haben Sie die Stelle, die, wenn's sein muss, mit Java telephoniert". D'Aprile skizziert kurz, aber instruktiv die Gründung des Reisebüros Thomas Cook, die Entstehung des Massentourismus und die Wirkung auf Fontane. Seine Reise-Feuilletons aus Schottland ("Jenseit des Tweed") haben es schon zu tun mit den romantischen Erwartungen der Massen und den dadurch profanierten Wirklichkeiten.

England wird um seiner Modernität willen für Fontane das Maß aller Dinge, gesellschaftlich und literarisch, Dickens und Thackeray und nicht etwa die großen Franzosen geben das Muster des Gesellschaftsromans ab. Er bewundert die englische Presse, insbesondere ihre Unabhängigkeit imponiert ihm; dass die Zeitungen ihr Publikum am Markt überzeugen müssen, hält er für ein "Korrigens in sich selbst".

Mit den Nachbarn der Londoner Zeit organisiert er einen deutsch-britischen Jugendaustausch, von dem besonders die Tochter Martha ("Mete") profitieren wird. Frauenbildung bedeutet ihm etwas; 1848/49 unterrichtet er angehende Apothekerinnen im Krankenhaus Bethanien. Fontane war sicher nicht frei von den zeittypischen Geschlechterstereotypien. Selbst die so kluge wie couragierte Corinna Schmidt in "Frau Jenny Treibel" reagiert auf die Aussicht, mit ihrem künftigen Mann auf Ausgrabung nach Griechenland zu gehen - in den 1890er-Jahren ein richtiges Abenteuer - abwehrend. Vorläufig sei sie "mehr für Haus- und Kinderstube". Und doch hat Fontane ein starkes Gefühl für die elementare Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern. "Mir gegenüber hast du's immer bestritten, immer bestritten, dass die Frau in einer Zwangslage sei", sagt Effi Briests Mutter zu ihrem Ehemann, und dessen Bonhommie wirkt da nur noch routiniert. D'Aprile zeigt Fontane in seiner Epoche, Interpretationen zu dessen wichtigsten Werken vorzulegen, ist nicht die erste Absicht. Das hat auch Nachteile. "Effi Briest" zum Beispiel wird nur kurz auf dem Hintergrund der bekannten Geschichte von der Ehe der von Ardennes behandelt. Dass Instetten besser abschneidet als Armand von Ardenne, der gut gelaunte Schlagetot, das wird klar.

Sie haben alle einen "Knacks", Effi wie Instetten, es ist der "Knacks" der Moderne

Aber seine tragische Lage (zumindest selbst sieht er sie so) bleibt doch unterbelichtet, ein ",harmloser' Durchschnittsbeamter" ist er gerade nicht. Wenn es Effi auszeichnet, einen "Knacks" zu haben, einen Knacks, wenn auch von anderer Art, hat auch Instetten und nicht erst nach dem Duell mit Crampas.

Fontane hatte es die "Natürlichkeit" angetan, aber seine Personen sind nicht naiv, sie kämpfen mit ihrer Reflexion, das macht ihre Modernität aus und auch die Instettens.

Solche Einwände gegen D'Aprile können allerdings gegenüber dessen Vorzügen nur zweiten Ranges sein. Das Romanwerk wird eben nicht nacheinander durchgedeutet, sondern unter übergreifenden Fragen ästhetischer oder politischer Natur behandelt. Eindrucksvoll beschreibt D'Aprile, wie "Stine" einsetzt, wie der soziale Raum, das kommende Mit- und Gegeneinander von Adel, Kleinbürgertum, Arbeiterschaft sich in den wechselnden Perspektiven der Figuren formt, die der "beobachtende Erzähler" zu Wort und Erscheinung kommen lässt. D'Aprile zitiert Fontanes Bekannten Richard Moritz Meyer, der in seiner "Geschichte der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts" Fontane als "Lernenden" charakterisiert. Das Schematische und Serielle der Romane, das D'Aprile in vielen Details zeigt, erklärt er mit Meyer soziologisch. Was der Mensch tut, "das gehört ihm nur zum Teil: viel davon ist Zwang der Verhältnisse, anderes mechanische Gewohnheit". Dies lasse Fontane in seinen "Experimentalromanen" geschehen, um es zu beobachten. Ihre Freiheit aber haben die Figuren im Gespräch, dem Versuch der Selbstaufklärung.

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