Literaturfestival:Helden unserer Zeit

Mario Vargas Llosa eröffnete das Internationale Literaturfestival in Berlin und pries den Bund von Literatur und Fortschritt.

Von Lothar Müller

Zu den Kulturveranstaltungen, die derzeit mit realem Publikum stattfinden, gehört das Zugleich von Aufatmen und Seufzen. Aufatmen, weil irgendeine Form von physischer Anwesenheit gesichert ist. Seufzen angesichts der Abstandsregeln, der Verstreuung von Anwesenheitsinseln im Raum. Der Kammermusiksaal der Philharmonie ist ein ziemlich großer Raum. Als dort am Mittwochabend das 20. Internationale Literaturfestival Berlin eröffnet wurde, war im Grußwort der Staatsministerin für Kultur, Monika Grütters, das Zugleich von Seufzen und Aufatmen überdeutlich zu hören. Die Absage der Frankfurter Buchmesse als Anwesenheitsmesse und die Verschiebung der Leipziger Buchmesse von März auf Mai 2021 lieferten die Kontrastfolie für den "Hoffnungsschimmer" in Berlin, wo eine beträchtliche Anzahl der Veranstaltungen analog stattfindet, ergänzt durch Vorabaufzeichnungen und Videozuschaltungen live. Der Seufzer angesichts des spärlichen Publikums mündete in die Forderung, schematische Abstandsregeln durch pragmatische Lösungen im Einzelfall zu ersetzen.

Literatur bleibt ein tückisches Medium

Das Internationale Literaturfestival legt großen Wert auf seine Internationalität. Eröffnungsredner in diesem Jahr war der peruanische Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa. Er war aus Madrid angereist, dafür lobte ihn der Festivalchef Ulrich Schreiber und verglich ihn mit der Titelfigur in Michail Lermontows Roman "Ein Held unserer Zeit". Das war als Ehrentitel gemeint. Die Literatur aber ist ein tückisches Medium. Etwas von der Fahrigkeit und Ziellosigkeit, die den Lermontow-Helden auszeichnet, schien in Vargas Llosa gefahren zu sein, als er seine Eröffnungsrede vortrug. Frei, was stets Respekt abnötigt, aber nur gelingen kann, wenn die Improvisation einem durchgearbeiteten Manuskript ebenbürtig ist. Das war hier nicht der Fall. Der Literaturnobelpreisträger begnügte sich damit, in immer neuen Variationen und Anläufen den Gedanken zu formulieren, dass die Literatur seit ihren Ursprüngen über die Wirklichkeit, in der sie entsteht, hinausweist, dass sie das Unbehagen an der Realität nährt und dadurch zur Entwicklung des Menschengeschlechts und zum Fortschritt beiträgt. Das ist ein tröstlicher Gedanke und umso tröstlicher, je stärker er von Fortschrittsgewissheit begleitet ist. Von den urzeitlichen Vorfahren, die sich in ihren Hütten Geschichten erzählen, um die Angst zu vertreiben, über den Picaro-Roman, der in den Ländern Lateinamerikas lange verboten war, bis in die Gegenwart, in der die Literatur die Menschen gegen Unfreiheit und Zensur aufbegehren lässt, führt der Parcours des Fortschritts. Fast klang es bei Vargas Llosa so, als könne die Literatur, jedenfalls die anspruchsvolle, gar nicht anders, als im Bunde mit Freiheit und Demokratie zu sein. Die Literatur kann aber auch anders und hat das oft demonstriert. Sie kann, auch dies glanzvoll, zum Sturz nicht nur von Diktatoren, sondern auch von Demokratien beitragen, kann Kriegen das Wort reden, innergesellschaftliche Konflikte anheizen, Bürgerkriege herbeisehnen.

Davon aber war an diesem Abend nicht in Berlin die Rede, sondern in Hamburg. Dort hatte, wie die Ticker meldeten, der Schriftsteller Navid Kermani das Harbour Front Literaturfestival eröffnet. Er stellte seiner Lesung eine Erklärung voran, in der er die in Deutschland zunehmende Neigung beklagte, Freund-Feind-Konstellationen herzustellen, und warnte davor, "Zustände wie in einem Bürgerkrieg" zu riskieren. Der Anlass war eher geringfügig, wenn auch nicht unerheblich. Es ging um die Ausladung der Kabarettistin Lisa Eckhart durch die Veranstalter des Harbour Front Festivals. Für vollkommen missraten hielt Kermani ihren kabarettistischen Versuch, "sich ausgerechnet im Gewand und Gestus einer Marlene Dietrich, die vor den Nazis geflohen ist, antisemitische und rassistische Stereotype zu eigen zu machen, um sie zu entlarven". Aber sie sei wegen ihres jüngst erschienenen Romans "Omama" eingeladen und allein deshalb ausgeladen worden, weil zwei Autoren, die es vorzogen, anonym zu bleiben, es ablehnten, mit ihr auf einer Bühne zu stehen. Darin sah Kermani den Übergang von Gegnerschaft, die auf offener Bühne auszutragen wäre, zu Feindschaft, die aus der Person eine Unperson macht. Es ist ungewiss, ob die von Kermani attackierten Autoren die Herausforderung annehmen und auf der Festivalbühne replizieren. Solche Probleme hat man in Berlin nicht. Dort ist man auf weltweite Lesungen zur internationalen Solidarität spezialisiert: mit den Aktivisten in Hongkong, mit der "Black Lives Matter"-Bewegung in den USA. Und Vargas Llosa sprach am Donnerstag mit dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier höchstpersönlich über Covid-19 als Bewährungsprobe für die liberale Demokratie.

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