Süddeutsche Zeitung

Literaturfestival:Flutwellen zuschauen

Das Festival "Eventi letterari Monte Verìtà" stand in diesem Jahr unter dem Motto "Die Utopie von der Natur". Das schloss den Blick auf die Dystopien der Gegenwart ein.

Von Kristina Maidt-Zinke

An der Seepromenade von Ascona kann einem leicht die Klopstock-Parodie von Peter Rühmkorf in den Sinn kommen: "Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht,/ mit entspanntem Munde gepriesen; schöner ein künstlich Gebiß,/ das den großen Gedanken/ einer Schöpfung noch einmal käut."

Schöner und prächtiger noch als der Zürchersee, der Klopstock und Rühmkorf zur Ode und deren Parodie beflügelte, ist der Lago Maggiore. An Gebisse gemahnen all die weißen Wohlstandsimmobilien, die sich die Hänge hochfressen, ganz abgesehen vom hohen Senioren-Aufkommen im Tessin. Und die Natur, wo ist sie? Schläft sie in den Tiefen des von der letzten Eiszeit hinterlassenen Sees, in den majestätisch schweigenden Alpengipfeln oder in den scheintot gestutzten Platanen am Lungolago? Und wird sie sich irgendwann schrecklich erheben und ihre Erfindungen wieder vernichten, weil der Mensch, nachdem er auf dem großen Gedanken einer Schöpfung zweitausend Jahre herumgekaut hat, fest entschlossen scheint, sich nicht mehr um dieselbe zu scheren?

Das aktuelle Plakat der "Eventi letterari Monte Verità", des vor sechs Jahren in und für Ascona erfundenen zweisprachigen Literaturfestivals, spielt mit diesem Szenario: Da sitzt ein Paar entspannt auf einer Bank am Seeufer und zückt den Selfie-Stick im Angesicht einer gigantischen Tsunami-Welle. "Die Utopie von der Natur" lautete das diesjährige Motto der Veranstaltung, die sich darauf verpflichtet hat, den Begriff der Utopie (Dystopien inbegriffen) von allen Seiten zu beleuchten. Damit soll an den Mythos des Monte Verità angedockt werden, des heiligen Hausbergs von Ascona, auf dem sich einst frühmoderne Utopisten, Visionäre und Zukunftsromantiker jeder Couleur versammelten.

Die Wiederbelebung des 321 Meter hohen Hügels als kulturtouristische Attraktion ist zwar ein profanes Projekt regionaler Wirtschaftsförderung, doch der zuständige Filmfestival-Chef von Locarno, Marco Solari, hat mit der Idee, den Berliner Lyriker und Impresario Joachim Sartorius als Kurator zu engagieren, daraus so etwas wie eine deutsch-italienische Spielwiese des Geistes gemacht.

Im edlen Bauhaus-Ambiente der Tagung schließt der Begriff "Utopie" die Dystopien ein

Interessant ist die Kurve der Themenwahl seit 2013: Nach kühnen Höhenflügen zu "Obsessionen" und "Dämonen" hat man sich über "Gedächtnis" und "Liebe" allmählich geerdet, hat im vorigen Jahr "Orte" ins Visier genommen und ist nun also bei der "Natur" angelangt, der neben einer hochkomplexen philosophischen und historischen Begrifflichkeit immerhin eine konkrete physische Präsenz zu eigen ist. Es war ja, unter anderem, ein "Zurück zur Natur" im durchaus handfesten Sinne, das die ersten Aussteiger und Siedler am Monte Verità beseelte, samt Freikörperkult, Sonnenanbetung, Vegetarismus, Rohkost und Reformkleidung.

Wie sich das alles mit spiritueller Sinnsuche, künstlerischem Aufbruchswillen und politischem Emanzipationsdrang verquickte, wer hier kam und ging, wer sich mit wem überwarf und warum, dokumentiert die legendäre, vierzig Jahre alte Dauerausstellung von Harald Szeemann, die nach mehrjähriger Pause in die restaurierte Holzvilla Casa Anatta zurückgekehrt ist (SZ vom 17. Juni 2017) und den "Eventi letterari" nun als intellektuelle Folie und Inspirationsquelle dienen kann.

Auch im Hinblick auf einen gewissen Mut zur Anarchie bei der Programmgestaltung: So wie die Wahrheitssucher des frühen 20. Jahrhunderts sich hier sogleich in zahllose Fraktionen aufspalteten und jeder seiner individuellen Auslegung eines nur vage konturierten Projekts folgte, nimmt man sich heute die Freiheit, ein so kolossales Thema wie "Natur-Utopien" ganz unsystematisch zu umkreisen und hier und da anzubohren, sei es aus der Perspektive der Literatur, der Naturwissenschaft oder der subjektiven Erfahrung. Das führt streng genommen zu nichts, wirkt aber nachhaltig anregend.

Im ausverkauften Kinosaal von Locarno sprach der knorrige Neapolitaner Erri De Luca, Schriftsteller und Übersetzer, linkspolitischer Kämpfer und Naturfreund, Handwerker und Helfer in Kriegsgebieten, Ungläubiger und Bibelkenner, über sein bewegtes Leben und seine heterogene Weltsicht, unbekümmert um Klarheit und Stringenz. Davon gab es umso mehr im edlen Bauhaus-Ambiente des Tagungszentrums auf dem Monte Verità, bei dem Tessiner Dichter Fabio Pusterla, dessen ebenso kraftvolle wie melancholische Naturlyrik sich auf der Höhe der Zeit zeigt, Verluste beklagt und Hoffnungsschimmer andeutet. Der Norweger Erling Kagge, einst Berufs-Abenteurer, jetzt Verleger und Autor des Welterfolgs "Stille", schwamm bei sechs Grad Wassertemperatur im See und hätte schon äußerlich gut unter die Naturapostel in der Szeemann-Schau gepasst. Er entzauberte allerdings seinen Bestseller, indem er verriet, dass die Stille seiner einsamen Antarktis-Expedition in den Neunzigern von einem Walkman mit Musikprogramm zwischen Rock und Oper untermalt war: Wieder eine Utopie, respektive eine Illusion weniger.

Wie sich die Wahrnehmung der Natur, das Konzept einer idealen Gesellschaft und damit der Utopiebegriff im Lauf der Menschheitsgeschichte veränderten, erläuterte der italienische Philosoph Remo Bodei in einem altväterlich-bedächtigen Vortrag. Fleißig, aber nicht wirklich weiterführend hatte der Literaturwissenschaftler Niccolò Scaffai den "ökologischen Diskurs" in der neueren Literatur untersucht. Brandaktuellen Spreng- und Denkstoff lieferte dagegen der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber mit einem Extrakt seines Buchs "Selbstverbrennung" samt Anschauungsmaterial - und outete sich, verblüffend genug, als letzter Utopiker, indem er trotz der dramatischen Folgen des menschlichen Umgangs mit der Natur noch die Chance einer Umkehr plausibel machen konnte.

Bruno Ganz und Valentina Lodivini bringen Elegien und Paradiesvisionen zu Gehör

Schreiben über Natur heißt heute auch im deutschen Sprachraum "Nature Writing", weil das weltläufiger klingt. Berühmte Beispiele des Genres aus mehreren Jahrhunderten - Rousseau, Thoreau und Robinson Jeffers, Giacomo Leopardi und Eugenio Montale - brachten Bruno Ganz und seine italienische Kollegin Valentina Lodivini zu Gehör: Paradiesvisionen und Elegien, glanzvoll vergegenwärtigt.

Beim Abschlusspodium verwickelte der Moderator Roger de Weck die beiden Naturschriftstellerinnen Judith Schalansky und Zora Del Buono sowie Rüdiger Schaper, Autor einer neuen Biografie des Universalgelehrten Alexander von Humboldt, in ein kurzweilig-kluges Gespräch über Inseln, Bäume, Umwege und Entdeckungen, sowie über die Kraft des Widerstands und den Trost, der im Untergang liegt - da wurde der Mythos des Monte Verità für einen Augenblick wieder lebendig, als Utopie einer Stätte der Begegnung und des Austauschs vieler verschiedener Wahrheiten.

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Quelle:
SZ vom 29.03.2018
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