Literaturfestival:Die Ordnung der Dinge des Lebens

Das Festival "LiteraTurm" in Frankfurt am Main fand in diesem Jahr zum Thema "Biografie" statt: Wie schreibt man eine Biografie des eigenen oder eines fremden Lebens? Attraktiv ist derzeit die Form des Kaleidoskops.

Von Volker Breidecker

"Indem wir die Rindswurst aßen und nichts Wichtiges sagten", rief das stille Einverständnis, die Literatur aus der Unterhaltung auszuklammern, zwischen dem Dichter Thomas Bernhard und dem FAZ-Kritiker Karl Heinz Bohrer "eine Art essenzielle Parallelität" hervor. Wann immer Thomas Bernhard in das Verlagshaus an der Frankfurter Hellerhofstraße kam, um der legendären Redaktionsseele Anneliese Ruppel seine Aufwartung zu machen, ging er mit Bohrer zum Rindswurstessen um die Ecke.

Karl Heinz Bohrer, einer der profiliertesten deutschen Intellektuellen, las diese Episode von 1970 aus "Jetzt", dem zweiten Band seiner Erinnerungen bei einer der "LiteraTurm"-Veranstaltungen in Frankfurt am Main, die in diesem Jahr dem Genre "Biografie" gewidmet war, ob als romanhafte Schilderung fremden oder eigenen Lebens. Lange hatte das Genre keinen guten Ruf, ob seine aktuelle Renaissance gar einen "biographical turn" anzeigt, wie Frankfurts Kulturdezernentin Ina Hartwig am Eröffnungsabend sagte, mag dahingestellt bleiben. Immerhin erlag das von Sonja Vandenrath kuratierte Festival nicht der Versuchung, das wuchernde Genre - der Katalog der Deutschen Nationalbibliothek zählt allein für die Sparte "romanhafter Biografien" 13 663 Titel - in unerschöpflicher Beliebigkeit auszubreiten.

Einige Konturen traten rasch zum Vorschein: Emmanuelle Loyer, die Biografin des großen französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss, grenzt ihre Arbeit nicht nur vom autobiografischen Faden der romanhaften "Traurigen Tropen" ihres Protagonisten selbst ab, sondern auch von überkommenen biografischen Erzählkonventionen. Sie neigen dazu, ambivalent verschlungene Lebenswege zugunsten illusionärer Kohärenz und Folgerichtigkeit einzuebnen. Im Rückgriff auf die "kaleidoskopische" Ordnung im Privatarchiv des Gelehrten, dem Hauptinstrument seiner Arbeit, gleicht Emmanuelle Loyer die Form ihre Biografie an die "strukturale Anthropologie" ihres Helden an. "Briefwechsel, Hefte, Memoiren, Karteikarten, Kalender, Vorbereitungen auf Vorlesungen und Manuskripte, Zeichnungen, Fotografien usw" sind das Material, um vormals lebendige Zusammenhänge zu modellieren.

Das emphatische "Ich" ist fragwürdig geworden, an seine Stelle treten oft Orte oder Objekte

Es ist faszinierend, von ähnlichen Verfahren anderer Autoren am Gegenstand von Biografien selbst solcher Personen zu erfahren, die - wie Marcel Beyer als darin geübter Spezialist sagt - "an einer bestimmten Stelle des zwanzigsten Jahrhunderts präsent waren, von denen man aber nicht weiß, ob sie am Rand oder im Zentrum standen", bevor sie wieder verschwanden. Beyer stellte Francis Neniks "Reise durch ein tragikomisches Jahrhundert. Das irrwitzige Leben des Hasso Grabner" (2018) vor, die Biografie eines Verschwundenen, verfasst von einem Autor, der sich seinerseits hinter dem verschwundenen Objekt unsichtbar macht, indem er etwa darauf achtet, dass kein Bild von ihm kursiert. Es handelt sich um die unter einem Pseudonym verfasste, akribisch betriebene und beschriebene Recherche nach einer von den Bühnen ihres Lebens verschwundenen Figur, von der nur noch archivarisch verstreute Fragmente existieren. Nach Art von Puzzles lassen sich aber diese Fragmente zum - wiederum - "Kaleidoskop" eines Menschen zusammensetzen.

Das emphatische "Ich", zu dessen radikaler Subjektivität sich in Frankfurt fast nur noch Karl Heinz Bohrer zu bekennen wagte, ist fragwürdig geworden, oft verschwindet es hinter einer distanzierten dritten Person oder einem plural vorgestellten ,man" , um sich mit seiner sozialen Welt zu verschränken. An die Stelle lebendiger Helden, die früher im Zentrum einer Erzählung standen, rücken die Schauplätze und Räume, an und in denen die Menschen sich bewegen. Durs Grünbein bekennt sich bereits im Untertitel seiner Dresdner Jugenderinnerungen "Die Jahre im Zoo" zum topografisch collagierten "Kaleidoskop" von Geschichten, Versen und Bildern.

Christophe Boltanskis "Das Versteck" (2017) ist die romanhafte Biografie eines Pariser Hauses, das an die Stelle der unmöglich gewordenen Biografie einer ebenso unmöglichen Familie tritt. Das jüdische Oberhaupt dieser Familie hatte die NS-Besatzung versteckt im schmalen Hohlraum unter einer Diele überlebt.

Eine Ortsbeschwörung auf kontaminiertem Gelände ist das jüngste Werk "Laß dich heimgeigen, Vater, oder Den Tod ins Herz mir schreibe" des österreichischen Autors Josef Winkler. In seinem Kärntner Heimatdorf Kamering, der schon oft geschilderten Schädelstätte seiner Kindheit und Jugend, macht Winkler die ihm bislang verschlossene, weil auch vom Vater verschwiegene Entdeckung, dass der für den Mord an zwei Millionen Juden verantwortliche Leiter der berüchtigten "Aktion Reinhardt", Odilo Globocnik, nach der Flucht aus Triest, seinem letzten Standort, auf dem von Winklers Eltern bebauten Gemeinschaftsacker verscharrt worden war, nachdem der SS-Mann, von britischen Besatzungssoldaten identifiziert, an Ort und Stelle auf eine Zyankalikapsel biss.

Der Erzähler stimmt da einen litaneiartigen Klagegesang an, eine wortgewaltige Anklage in der Kafka entlehnten Form eines Briefs an den Vater: "Jetzt stochere ich mit Worten in deinem Grab, um dich zum Sprechen zu bringen."

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