Süddeutsche Zeitung

Literaturfest:Seelen fassen

Kein Grund, den Kopf hängen zu lassen: In den ersten Literaturfest-Tagen kommen die Besucher manchen Autoren nahe - oder zumindest den lebensechten Wachsfiguren in der neuen Festival-Bar

Mitten im Raum schwebt eine Jungfrau, über dem Tresen wachen Wachsköpfe, ein Steinway-Flügel will bespielt werden. Auf der Getränkekarte steht der "Illusionist", ein Gin Tonic mit Farbenspiel. Das neue Festivalzentrum ist ein berauschender Ort, einer, der das Motto "Alles echt. Alles Fiktion" auf skurrile Weise weiterspinnt. Die Bar Panoptikum ist Kabinett des Staunens, Tanzcafé und Besuchertreff in einem. Dort, wo gewöhnlich die Ausstellungen des Literaturhauses locken, können Literaturfest-Flaneure tagsüber in den Büchern des Festivals schmökern, abends, an besonderen Tagen, Musikern und Poeten lauschen.

Zum Auftakt schlendert einer über die alten Teppiche auf die Bühne, der beides vereint: Tobias Bamborschke liest Gedichte und Gedankenfetzen aus seinem Büchlein "Mir platzt der Kotzkragen", später setzt sich sein Bandkollege Max Bauer zu ihm. Zusammen interpretieren sie Songs ihrer Indie-Pop-Hoffnung Isolation Berlin. Zwei E-Gitarren, zwei Mützen, zwei Bierflaschen, eine Stimme. Lässig und schmerzvoll-schön ist das und passt so gut in diese traumwandlerische Kulisse. Die Gedichte sind experimenteller, hier sucht ein junger Autor und ehemaliger Schauspielschüler eine neue Ausdrucksform. Er bringt Silben groß heraus, überrascht mit Lautstärke und Dehnung, einmal brüllt er so laut, dass man sich Sorgen um die schwebende Jungfrau macht. Als wollte Peter Doherty Charles Bukowski nacheifern, musengeküsst im Suff, rhythmisch, derb, lyrisch frei, geht er den Weg des wütenden Romantikers beim exzessiven Scheitern. Nicht gescheitert ist der Versuch, auch junge Besucher für das Literaturfest im Allgemeinen und Poesie im Besonderen zu begeistern. Der Raum ist voll, und die Ältesten sind die Wachsfiguren. Bernhard Blöchl

Die Schlange reicht von der Garderobe im Parkett links der Kammerspiele bis zu der im Mittelgang. Und das liegt jetzt nicht daran, weil die Leute ihre Jacken bevorzugt an einer Stelle abgeben: Sven Regener ist das Ziel der Wartenden. Der Autor und Musiker sitzt hinter der Garderobentheke und signiert sein neues Buch "Wiener Straße", aus dem er gerade 90 Minuten lang in einem Tempo gelesen hat, dass man fast meinte, ein paar Minuten mehr, und er hätte die 300 Seiten seines Romans komplett geschafft. Er hatte ja eingangs versprochen: "Heute gibt es ordentlich eins auf die Lese-Zwölf." Und zwar ohne Pause, weil danach alle nur abschlaffen. Inklusive des Lesenden. "Pausen mache ich nicht mehr." Und so also jagte Regener vor seiner Signierorgie durch die irren Dialoge und Wurschteleien seiner Protagonisten rund um Herrn Lehmann, die mittlerweile ja schon so etwas wie Kultstatus haben. Das war an diesem Abend des Forum: Autoren deutlich zu spüren, an dem lustvollem Lachen, dem aufbrandenden Applaus nach jedem gelesenen Teilkapitel. Eine Zusammenfassung der Handlung konnte sich Regener vor diesem Publikum sparen. Wollte er auch. Erstens sei er zu faul. Und zweitens: "Wenn man das hätte zusammenfassen können, hätte ich mir die ganze Arbeit sparen können." Wichtig war ohnehin der Sound dieses bizarren Westberlins im Jahr 1980 - und der des Lesekönigs Sven Regener. Yvonne Poppek

Es ist kalt und laut. Wegen großen Publikumsandrangs breitet sich "Das zersplitterte Ich", die erste große Veranstaltung in Doris Dörries Literaturfest-Programm, nicht im Literaturhaus aus, sondern in der überdimensionierten, unbeheizbaren ehemaligen Schalterhalle in der Alten Bayerischen Staatsbank. Nebenan tobt eine Party. Zu spät reißt Dörrie nach zwei langweiligen Moderationen und überlangen zwei Stunden in der dritten und letzten temperamentvoll das Ruder herum. Da aber hat sich der Saal schon erheblich geleert. Drei jüdische Schriftstellerinnen denkbar unterschiedlichen Temperaments lösen sich an diesem Abend im Stundentakt darin ab, lauter Wahres über ihre dramatischen Leben zu äußern. Zwei von ihnen, Deborah Feldman und Ariel Levy, lesen und erzählen aus ihren und über ihre Bücher "Überbitten" beziehungsweise "Gegen alle Regeln" so ziemlich das Gleiche wie am Abend zuvor bei der Eröffnung des Literaturfests. Und doch Entscheidendes mehr.

Zwischen Feldman und Levy ergeht sich Elena Lappin, Maxim Billers handzahme große Schwester, über die späte, aber kaum erschütternde Entdeckung ihres leiblichen Vaters und die politisch bedingte Wanderschaft ihrer Familie von Moskau über Prag ins für sie langweilige Hamburg. "In welcher Sprache träume ich?" fragt sie mit ihrem Buch und liefert prompt die Antwort: Im Tschechischen war sie heimisch, aber literarische Leichtigkeit entdeckte sie erst im Englischen. Darin kann man eine Verbindung zu Deborah Feldman entdecken, deren zersplittertes Ich seine neue Identität in Deutschland und der deutschen Sprache gefunden hat. Aber das bemerkenswerteste Phänomen beschreiben Feldman und Levy: das von zeitgleicher Ungleichzeitigkeit. Ariel Levy ist aufgewachsen in dem aufgeklärten Bewusstsein, dass ihr all das zustünde, was das Leben an unbegrenzten Möglichkeiten für sie parat hielt. Feldman hingegen floh ein paar Kilometer weiter die Weltabgewandtheit ihrer chassidischen Sekte, in der eine Frau weder Bildung noch Selbstbestimmung erlangen kann. Feldman und Levy, sie haben ihr existenzielles Unglück überschrieben. Leises Klavierspiel von nebenan treibt der coolen Ariel Levy Tränen in die Augen. Ihr ist sicher kalt. Eva-Elisabeth Fischer

Was hat es zu bedeuten, wenn Fußball-Funktionär Franz Beckenbauer auf einer Reise gleichzeitig in Togo und Ghana auftritt? Dass hier zweifellos Schorsch Aigner im Spiel ist, sein Double. Und wer genau ist nun dieser Schorsch Aigner? Es ist Olli Dittrich, hauptberuflich "Menschendarsteller". Seine Verwandlung in Beckenbauer in einer Mockumentary, einem Fake-Dokumentarfilm also, ist am Freitag im Literaturhaus vor ausverkauftem Saal zu sehen. Anschließend erzählt Dittrich im Gespräch mit Dörrie, was ihm wichtig ist: "Es ist alles Fiktion - aber es bleibt bei der Wahrheit." Entscheidend sei: "Es geht darum, die Seele zu fassen zu kriegen."

Die Seele eines Menschen zu fassen - darum geht es auch beim Dokumentarfilm, dem echten sozusagen. Doch auch hier sind die Grenzen zwischen echt und unecht fließend - das macht der Workshop "Filme lesen lernen" von Filmemacherin und HFF-Dozentin Maya Reichert schnell deutlich. Am Sonntagvormittag sitzt ein bunt gewürfeltes Publikum im Literaturhaus-Saal und diskutiert eifrig über die Machart des Filmbeispiels "Anne fliegt". Reichert gelingt es dabei mühelos, sowohl 14-Jährige zum Reden zu bringen als auch 74-Jährige. Und auch wenn Besucher mit etwas Vorbildung natürlich ahnen, worauf Film und Analyse zielen: Eine gute Sehschule ist es auf alle Fälle, anhand eines konkreten Beispiels die eigenen Kriterien zu überprüfen. Die wichtigste Frage ist dabei natürlich: Wie sehr darf ein Dokumentarfilm die Wirklichkeit inszenieren? Von "Arrangieren" spricht Reichert - und von der Gratwanderung bei solchen Arrangements. Ist es erlaubt, das Turnen an einer Schule auf fünf Stunden auszudehnen, nur damit das Filmteam am Ende bestimmte Szenen im Kasten hat? Und darf man danach die "Ähs" der Protagonisten herausschneiden? Auch ein Dokumentarfilm, so fasst Reichert zusammen, ist eben "immer Erzählung". Antje Weber

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SZ vom 20.11.2017
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