Süddeutsche Zeitung

Literaturfest:Schweizer Brexit

Bärfuss und Rendueles beim Forum:Autoren

Von Sabine Reithmaier

Lukas Bärfuss misstraut der staatlichen Sucht, Jubiläen zu feiern. Man müsse einmal genauer untersuchen, was dadurch ausgelöst werde, sagte der Schweizer Büchner-Preisträger zum spanischen Soziologen César Rendueles. Gemeinsam dachten sie in Ingo Schulzes Forum:Autoren-Reihe "Fragen an die Welt nach 1989" über die Auswirkungen dieses Jahres in ihren Ländern nach. Bärfuss war sich sicher, dass der 40. Jahrestag der DDR-Gründung für den Umsturz eine Rolle gespielt hat.

In der Schweiz sollte 1989 ebenfalls gefeiert werden: die 50. Wiederkehr des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs. Dass man dessen Beginn und nicht dessen Ende feiern wollte, zeige allein schon die Paranoia eines Landes, in dem laut Bärfuss der Kalte Krieg kälter als in anderen Ländern war, die Angst vor dem Einmarsch der Russen alltäglich. Doch 1989 brach diese "geistige Landesverteidigung" zusammen, als eine parlamentarische Untersuchungskommission entdeckte, dass der Staatsschutz seit vielen Jahren die Bevölkerung bespitzelt und in Stasi-Manier Akten über kritische, also links orientierte Bürger angelegt hatte. Dazu kam ein Volksentscheid, in dem sich, völlig unerwartet, ein Drittel der Schweizer für die Abschaffung der Armee aussprach. Das für Bärfuss tragische Moment an der Entwicklung: Der rechtsnationalen Bewegung gelang es, den Antikommunismus in eine Anti-EU-Bewegung zu transformieren, zumal die Schweizer sich 1992 sehr knapp gegen den Beitritt zum europäischen Wirtschaftsraum aussprachen. "Da hatten wir unseren Brexit." Nach der langjährigen Erfahrung mit Rechtspopulismus - "die Schweiz ist da Avantgarde" - wisse er, dass der Albtraum nicht einfach wieder aufhöre. Moralisch sei er nicht zu lösen, nur diskursiv und demokratisch. "Interessenlagen dechiffrieren und transparent machen - so hat man eine Chance."

In Spanien wurde das Jahr 1989 erst einmal nicht wahrgenommen, berichtet César Rendueles. Erst 1992, als in Barcelona die Olympischen Spiele und in Sevilla die Weltausstellung stattfanden, zugleich die erste Schnellzugstrecke des Landes gebaut wurde, habe die Bevölkerung eine kollektive Euphorie erfasst. Sie wiegte sich in dem Glauben, am zunehmenden Wohlstand teilnehmen zu können, gab sich der Illusion hin, der Markt regle alles, setzte Demokratie mit neoliberalen Wirtschaftsprozessen gleich. Der Dauerkonsum schien auch die Möglichkeit zu bieten, die jüngere Vergangenheit - Diktatur und faschistische Gewalt - zu vergessen. Jedenfalls bis 2008 Finanz- und Immobilienblasen platzten.

Spanien ist laut Rendueles ein Land mit einer schwachen gemeinsamen Identität. Die Rechtspopulisten von Vox nutzten die Identitätskrise geschickt; doch die Konflikte verwiesen auch auf unbearbeitete Konflikte und Konstruktionsfehler in der Organisation der EU, sagte der Soziologe. Dem stimmte Bärfuss zu. Die europäische Einigung habe die Delegitimierung des Nationalstaats befördert, Wasser auf die Mühlen der Rechten, zumal man die nächsten Integrationsschritte wie Schulden- und Sozialunion nicht unternommen habe. "Zusammenhalt funktioniert aber nur unter Gleichgestellten."

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Quelle:
SZ vom 20.11.2019
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