Süddeutsche Zeitung

Literaturfest:Oh, Orient

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Der Schriftsteller Mathias Énard im Literaturhaus

Von Antje Weber

Er ist eine Art Globalisierungswunder. Der Schriftsteller Mathias Énard, 1972 in einer westfranzösischen Kleinstadt geboren, hat seine einstigen Jungenträume, gespeist aus "1001 Nacht"- und Karl-May-Lektüren, wahr gemacht: Er hat es nicht nur wie viele andere auch zum Studium nach Paris geschafft, sondern später in Damaskus, Beirut und Teheran gelebt, in Kairo und im Süden Syriens; in Berlin war er übrigens auch mal als Stipendiat, und heute wohnt er in Barcelona. Auch sein neuer Roman "Kompass" (Hanser Berlin), für den er den renommierten Prix Goncourt erhalten hat, führt von Wien aus weit hinein in den Orient. "Die Welt erzählen" - dieses Motto des Literaturhauses für die eigenen Literaturfest-Veranstaltungen passt auf einen Erzähler wie Énard wirklich perfekt.

Ein bärtiger Mann mit gemütlicher Ausstrahlung sitzt etwas zusammengesunken - er absolviert gerade einen Lesungs-Marathon - auf dem Podium des gut gefüllten Saales, zwischen Moderator Stefan Weidner und Schauspieler Stefan Wilkening, der deutsche Passagen liest. Wer etwas unrealistisch gehofft hat, an jenem Abend in ein französisches Bain de langue einzutauchen, wird enttäuscht: Énard spricht - neben Arabisch, selbstredend - auch noch bestens Deutsch. Sehr freundlich gibt er Auskunft über seinen überbordenden Roman, der anhand einer schlaflosen Nacht des schwerkranken Wiener Musikwissenschaftlers Franz Ritter ein breites Panorama des Orientalismus entwirft - ähnlich wie Marcel Proust übrigens: Auch Proust schreibe in seiner berühmten "Recherche" ja wie einst Scheherazade "gegen den Tod an", sagt Énard, "um nicht zu sterben".

Der Schriftsteller verbindet in diesem Roman, von Co-Orientalist Weidner für seinen Assoziationsreichtum bewundert, eine Liebesgeschichte mit vielen Fakten zum historischen Orientalismus; dem heute allgegenwärtigen Bild von Gewalt und Terror, das Énard nicht ausspart, will er die Vielfalt des Nahen Ostens entgegensetzen - und die Erinnerung daran, wie sich Okzident und Orient immer wieder kulturell beeinflusst haben. "Der Orientalismus ist ein Humanismus", verballhornt Énard einen berühmten Satz von Jean-Paul Sartre; damit meint er, dass viele Gelehrte einst in den Orient reisten, um ohne Eigennutz zu forschen, "mit Leidenschaft für das Wissen". Bei jemandem wie Mathias Énard kann man diese Leidenschaft noch heute finden.

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Quelle:
SZ vom 18.11.2016
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