Literaturfest:Nicht so frei wie gedacht

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Als die ganze Welt feierte, saß er in einem bewachten Haus: Salman Rushdie (Mitte), flankiert von Bernhard Robben (links) und Shenja Lacher. (Foto: Elisabeth Greil)

Frank Witzel, Dževad Karahasan und Salman Rushdie sprechen über die Welt nach 1989

Von Antje Weber und Yvonne Poppek, München

Sichtlich erwartungsfroh stellt Ingo Schulze seine ersten Gäste vor. "Etwas viel Besseres könnte ich Ihnen nicht bieten", sagt der Schriftsteller und Kurator des Forum:Autoren beim Literaturfest und erklärt, warum ihm die Kollegen Frank Witzel aus Hessen und Dževad Karahasan aus Bosnien - mal abgesehen von ihren Werken - so nahestehen: Von Witzel habe er für das letzte Kapitel seines Romans "Peter Holtz" vieles "abgeschaut und geklaut", für die Schlusspassage seines nächsten Buches eine Figur bei Karahasan "ausgeborgt", mit dessen ausdrücklicher Erlaubnis. Und das, so Schulze, sei doch ein "literarischer Liebesbeweis".

Witzel und Karahasan danken es ihm mit klugen Texten zum Thema "Fragen an die Welt nach 1989" und einer so schnell abhebenden Diskussion, dass sich trotz nur einer Stunde Gesamtdauer am frühen Donnerstagabend niemand über mangelnden Gehalt beklagen kann. Witzel beschäftigt sich in seinem Text mit den oft krassen Umdeutungen von Geschichte, erst vor zwei Monaten auch von Seiten des EU-Parlaments. Die Geschichte bleibe nicht stehen, so Witzel, und das Gedenken an das, was 1989 für viele Befreiung war, beginne sich 30 Jahre später zu verändern, "nicht selten in eine Form der Unfreiheit hinein". Karahasan wiederum sieht 1989 gar nicht als wichtige Zeitgrenze, sondern als Resultat von Ereignissen zehn Jahre früher, als unter anderem die Sowjetunion in Afghanistan einmarschierte. Letztlich aber, so glaubt er, sind die unsichtbaren Prozesse die entscheidenden - vielleicht habe unsere traurige Epoche der "allgemeinen Obdachlosigkeit" ja mit dem Massentourismus ihren Anfang genommen.

Im Gespräch stellen beide fest, dass ihre Ansätze, nicht bei '89 stehen zu bleiben, sondern "nach vorne und nach hinten" zu schauen, sich letztlich ähneln. Unsere Epoche habe große Probleme mit der Zeit, glaubt Karahasan, Witzel nimmt noch den Ort hinzu: "Geh doch nach drüben", diese früher eher abschätzig gemeinte Aufforderung habe immerhin bedeutet, dass die Möglichkeit eines anderen Ortes existierte, "und der fiel plötzlich weg". Und so philosophiert man über den Verlust von Utopien, über Gott und die Ewigkeit und über Banken als Kirchen, die unsere Sehnsucht nach Transzendenz erfüllen sollen. Wenn "zwei so politische Metaphysiker" (Schulze) wie diese beiden Schriftsteller sich zum ersten Mal begegnen, wird es eben flirrend grundsätzlich.

Salman Rushdie redet nicht gerne über den Tag des Mauerfalls. Für ihn sei das Jahr 1989 nicht das glücklichste gewesen, erzählt der britisch-indische Autor in der Aula der Ludwig-Maximilians-Universität. Die Lesung am Donnerstagabend ist ausverkauft, der 72-Jährige hat viele Fans. Rushdie kommt mit seinem neuen Roman "Quichotte"(C. Bertelsmann) nach München. Zum dritten Mal ist er in der Stadt und erklärt gleich zu Anfang euphorisch: "Ich komme mir vor, als hätte ich mein ganzes Leben hier verbracht."

Da Forum:Autoren-Kurator Ingo Schulze das Jahr 1989 und die Folgen zum Thema gemacht hat, erzählt eben auch Rushdie, wo er am 9. November 1989 gewesen ist. An dem Tag, an dem die Mauer fiel, saß er in einem von Polizisten bewachten Haus. Im Februar '89 hatte der iranische Revolutionsführer Khomeini dazu aufgerufen, den Autor wegen seines Buches "Die satanischen Verse" zu ermorden. Seitdem stand Rushdie unter Schutz und versteckte sich, so auch am Tag des Mauerfalls. "Die ganze Welt feierte. Und was war mit mir?", erzählt er. 30 Jahre später war er jedoch dabei, Rushdie fuhr diesmal nach Berlin, holte etwas nach. Er habe bei den Feierlichkeiten zwei Reihen hinter Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und vier Reihen hinter Bundeskanzlerin Angela Merkel gesessen - und versucht, unter den ganzen Staatsgästen nicht aufzufallen, sagt er. Das Publikum lacht über diese anekdotenhafte Erzählung. Rushdie ist hier nicht nur der große Autor, sondern auch ein ironisch-witzelnder, weit schweifender Unterhalter.

Den Großteil des Abends widmet Moderator Bernhard Robben jedoch Rushdies neuem Roman. "Quichotte" spielt mit Fakten und Fiktion, hat verschiedene Erzählebenen, ist Vater-Sohn-Geschichte genauso wie Liebeserzählung, Roadmovie wie fantastischer Roman, Abenteuer wie Gegenwartskritik. Er schätze Bücher, in die so viel wie möglich hineingepackt ist, sagt Rushdie. Wie viel, zeigen die Lesungen. Schauspieler Shenja Lacher gibt den Ausschweifungen und Ausschmückungen Rushdies die passende Stimme. Ein Schnarcher ist hier nämlich weit mehr als nur Schnarchen, ist Trommelsolo, Automotor im Leerlauf, Rasenmäher, zischende Bratpfanne, Holzfeuer, Schießplatz, Tunnel zur Rushhour. Das Publikum amüsiert sich bei dieser seitenlangen Schnarch-Beschreibung - und geht dann hinaus in die gute Nacht.

© SZ vom 16.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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