Literaturfest:In der Lyrik liegt die Wahrheit

Literaturfest München 2019
Susanne Koelbl
Foto: Catherina Hess

Seit 19 Jahren berichtet Journalistin Susanne Koelbl, Initiatorin des "Poetry Projects", aus Afghanistan.

(Foto: Catherina Hess)

Beim "Poetry Project" im Gasteig lesen junge Flüchtlinge ihre eigenen Gedichte vor

Von Yvonne Poppek

"Papa, Mama,/ denkt ihr wirklich, ich würde nicht helfen, wenn ich könnte?/Denkt ihr wirklich, dass ich jetzt glücklich bin,/weil ich hier nach 18 Uhr noch draußen sein kann,/ohne Angst haben zu müssen?/... /Denkt ihr wirklich, dass ich euch vergaß,/weil ich hier ein besseres Leben führe?" Es war sehr still, als Rojin Namer bei der Eröffnung des Literaturfests im Carl-Orff-Saal ihr Gedicht "Schuldgefühle" las. Namer stand gemeinsam mit Shahzamir Hataki und Samiullah Rasouli auf der Bühne, wechselweise lesend. Alle drei sind Jugendliche, sind ohne ihre Eltern aus ihrer Heimat geflohen, Namer aus Syrien, die anderen aus Afghanistan. Alle drei haben ihre Geschichte aufgeschrieben - in Form von Gedichten, erarbeitet in Schreibgruppen des "Poetry Projects".

Die jugendlichen Autoren haben bei der Eröffnung einen starken Eindruck zurückgelassen: mit ihrem Mut und ihrer Souveränität, vor großem Publikum mit tief persönlichen Texten aufzutreten. Oder überhaupt mit ihrer Fähigkeit, ihre Geschichten - wenn auch in gebundener Sprache - aufzuschreiben, die von ihren Ängsten und Wünschen handeln und von Erinnerungen an Tote in der Wüste oder an ertrinkende Kinder im Meer. Ihre Gedichte legen so viele Schichten frei, dass man - über die Betroffenheit hinaus - tatsächlich in eine Art Dialog mit ihnen tritt. Eine zweite Chance, dies in München zu erfahren, gibt es an diesem Samstag, 23. November. Rojin Namer tritt dann mit Ali Alzaeem, Robina Karimi und Muska Karimi erneut im Gasteig auf.

Die Idee zum "Poetry Project" stammt von der Spiegel-Journalistin und Autorin Susanne Koelbl. 2015 lud sie gemeinsam mit dem Anwalt und Übersetzer Aarash Spanta und einem Bundeswehroffizier allein geflüchtete Jugendliche zu einer Schreibwerkstatt ein. "In der Lyrik liegt die Wahrheit", sagt Koelbl. Nur über diese Form sei es möglich gewesen, die Geschichten der jungen Menschen zu hören. Seit 19 Jahren berichte sie als Korrespondentin aus und über Afghanistan, sagt Koelbl. Das Gedicht habe in dieser Kultur einen ganz anderen Stellenwert. Sie schildert, wie Lyrik einfach so, am Esstisch, zur Begrüßung rezitiert werde. "Lyrik ist der Weg, es so zu sagen, wie ich es kann und ertrage. Und auch, wie Du es erträgst", sagt sie.

Mit sieben Jugendlichen in Berlin fing dann alles an. Sieben eher misstrauischen Jugendlichen. "Die dachten, das kann gar nicht sein, dass uns hier jemand einlädt", sagt die Journalistin. Doch sie und ihr Team hätten ihnen klar gemacht, dass sie auch etwas von ihnen wollen: "Wir wollen, dass ihr gute Bürger werdet", beschreibt Koelbl dies und nennt die Schreibwerkstatt einen "Auseinandersetzungsdialog" der sich um die Frage dreht: "Wie wollen wir zusammen leben?"

Nach den ersten beiden Lesungen sei klar gewesen, dass diese Art des Dialogs richtig ist: Das Publikum habe reagiert. Mit Tränen, aber auch damit, dass sie die Jugendlichen angesprochen haben, den Austausch suchten. Was als kleines Projekt begann, hat sich dann über die Jahre und mit viel Einsatz der Projektmanagerin Theresa Rüger zu einem deutschlandweiten Engagement ausgeweitet. Etwa 700 Jugendliche schrieben ihre Gedanken im "Poetry Project" auf. Mittlerweile hätten alle einen Anerkennungsstatus, gingen zur Schule oder machten eine Ausbildung.

Im Dezember oder Januar wird eine Anthologie erscheinen unter dem Titel "Ich wollte bleiben. Ich ging." Ende des Jahres wird für das "Poetry Project" die Förderung durch den Bund auslaufen. Koelbl geht damit gelassen um, sie sieht, dass eine neue Phase beginnt, dass die Fragestellungen 2019 andere sind als 2015. "Zu dokumentieren, wer kommt zu uns, das haben wir geschafft", sagt sie. Kleinere Lyrik-Lesungen werde es wohl noch geben. Den großen Auftritt beim Literaturfest München betrachtet sie dennoch als einen schönen Abschluss.

The Poetry Project: Allein nach Europa, Samstag, 23. November, 16.30 Uhr, Gasteig

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