Literaturdebatte:Großstadtkultur statt Weimarer Musenhof

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Der Germanist Conrad Wiedemann propagiert die "Berliner Klassik 1800". Hat er sie entdeckt - oder erfunden?

Von Willi Winkler

Im Frühsommer 1789, nur wenige Wochen vor der Revolution, trifft, von Königsberg und Kant kommend, der russische Schriftsteller Nikolai Michailowitsch Karamsin in Berlin ein. Er geht ins Theater, sieht den "Don Karlos", besucht den Literaturkritiker Friedrich Nicolai und den Oden-Dichter Karl Wilhelm Ramler, und er lässt sich zu Karl Philipp Moritz führen, für den er bereits aus der Ferne "große Achtung gefasst" hat. Vor der Stadt Berlin allerdings graust ihn, er muss sich "die Nase zuhalten vor dem Gestanke, den die Unreinigkeiten aller Art verursachen, die man in die Kanäle schüttet".

Karamsin weiß so wenig wie die übrige Welt, dass sich in der stinkenden preußischen Metropole gerade die "Berliner Klassik" ereignet, aber die wird auch erst gut zweihundert Jahre später durch den Berliner Germanisten Conrad Wiedemann entdeckt. Der Begriff ist ein Kampfbegriff, er wendet sich gegen die Hegemonie der denkmalgeschützten Bundesbrüder von Weimar. Auch in Berlin, so Wiedemann, gab es eine Klassik, sie war bürgerlich und nicht feudal, entspann sich in den jüdischen Salons, in den Zeitungen, in gelehrten Zirkeln und war insgesamt viel umfassender, weil sie, anders als die in Weimar, nicht auf der Abstoßung jüngerer, womöglich erfolgreicherer Autoren bestand.

Moritz war ihr Protagonist, Carl Gotthard Langhans, der Architekt des Brandenburger Tors, gehörte dazu, außerdem Rahel Varnhagen, die Brüder Humboldt, Ludwig Tieck, der Schauspieler und Dramatiker August Wilhelm Iffland, und das alles ohne einen um Kunstzierrat bemühten Großherzog. Im Jahr 2013 fand zum Thema "Berlin 1800" eine wissenschaftliche Tagung statt, und kaum sind sechs Jahre vergangen, so ist auch schon der dazugehörige Band erschienen, weshalb die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften über dem Weihnachtstingeltangel am Gendarmenmarkt zu einer Veranstaltung über "Deutsche Großstadtkultur in der klassischen Epoche" bat.

Eine Schauspielerin las aus Briefen Rahel Varnhagens, und auf dem Podium besprachen sich die Band-Herausgeber Cord-Friedrich Berghahn und Wiedemann. Der Altmeister Wiedemann extemporierte brillant über das Fehlen des Großstadtromans in der deutschen Literatur, was er auf die Idolisierung der Landschaft anstelle der bürgerlichen Stadt zurückführte, wofür er wiederum Goethe verantwortlich machte, den er, die aphoristische Zuspitzung nicht scheuend, als den literarisch "größten Egoisten der Weltliteratur" bezeichnete. In einer wunderbaren Diatribe und in erfreulichem Gegensatz zur aktuellen safranskinesken Heldenverehrung machte er Goethes Unterwerfung unter den Diktator Napoleon verantwortlich dafür, dass 1933 die Germanisten dem Beispiel ihres "Abgotts" folgten und keiner von ihnen Widerstand gegen den Diktator Hitler leistete.

Gegen das Idyll eines gesamtberliner Musenhofs wagte aus dem Publikum der Sozialhistoriker Jürgen Kocka immerhin den Einwand, dass die Jahre um 1800 doch alles andere als frei gewesen und sehr bald in die Repression nach dem Wiener Kongress gemündet seien. (Über die Käuflichkeit der Berliner Intelligenz gäbe es übrigens eine sehr schöne Stelle in Henriette Herz' Tagebüchern nachzulesen.)

Wer ein aufgeklärtes Volk sehen wollte, dem empfahl Karl Philipp Moritz eine Reise nach England

Wie im Klassenkampf war an diesem Abend für Zwischentöne kein Platz, etwa dafür, dass Karl Philipp Moritz seine Berliner Professur, die ihm endlich seine finanziellen Sorgen nahm, niemand anderem als Goethe verdankte, die sog. Berliner Klassik also, so schrecklich das für den germanistischen Lokalpatriotismus klingen mag, womöglich nur eine doppelte Ausgründung wäre, von Weimar her und natürlich von Königsberg und Kant, dessen Lieblingsschüler Marcus Herz dann nach Berlin zurückkehrte, wo seine Frau Henriette ihren berühmten Salon öffnete, in dem die neue Generation verkehrte.

Es bedarf deshalb unbedingt weiterer Forschung, wie Berghahns kleine Tochter mit bunt bemalten Nägeln fingerschnippend forderte, womöglich sogar weiterer Tagungen und noch weiterer Tagungsbände, die Jahre später nachgereicht werden. Bis dahin gilt das Wort des Beute-Preußen Moritz: "Wer ein aufgeklärtes Volk sehen will, welches durch seine Industrie auf die höchste Stufe der Verfeinerung gestiegen ist, der muss nach England reisen; wer aber die Alten recht verstehen lernen will, der muss Italien sehen." Von Berlin, wo sich vor zweihundert Jahren - posthistoire at ist best! - eine eigene Klassik zugetragen haben soll, war 1789 beim europäischen Gipfeltreffen mit dem Russen Karamsin merkwürdigerweise nicht die Rede.

© SZ vom 18.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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