Literaturbetrieb:Die Kritik ist nicht gerecht

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Etwas fehlt da zwischen Hellmuth Karasek (links) und Marcel Reich-Ranicki (rechts). (Foto: DPA)

Männer besprechen Bücher von Männern: Eine Studie über die "Sichtbarkeit von Frauen in Medien und Literaturbetrieb" liefert genaue Zahlen und die Einsicht, dass Kritiken von Männern meist länger sind.

Von Marie Schmidt

Wir meinten schon eine Weile lang, ein kaltes und sachliches Auge auf uns ruhen zu spüren, und jetzt gibt es nackte Zahlen über uns, die Literaturkritiker und Kritikerinnen. Man verliert sich ja gerade bei dem, was wir hier tun, unheimlich in Details, in ausgedachten Welten, Sprachkunststücken. Und dabei geht schon mal der Überblick flöten über robustere Fragen, wie: Haben mehr Frauen oder mehr Männer die Bücher geschrieben, die wir lesen? Und wer liest hier eigentlich?

Jetzt sind wir ausgezählt worden. Heute wird auf der Frankfurter Buchmesse eine Pilotstudie zur "Sichtbarkeit von Frauen in Medien und Literaturbetrieb" diskutiert, die ergibt, dass zwei Drittel aller in Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen besprochenen Bücher von Männern geschrieben wurden. Außerdem werden Kritiken häufiger von Männern geschrieben. 61 Prozent aller belletristischen Titel und 70 Prozent der Sachbücher wurden im Untersuchungszeitraum von männlichen Rezensenten gelesen und beurteilt. Die besprechen wiederum mehr Bücher von Männern. Nur jedes vierte Buch, über das Kritiker sich äußern wollten, stammte von einer Autorin. Kritikerinnen schreiben immerhin zu 44 Prozent über Bücher von Frauen, auch sie besprechen demnach aber mehr Männer.

Männliches Schreiben und männliches Lesen überwiegen also in der öffentlichen Aufmerksamkeit. Die Studie, die zu diesem Ergebnis kommt, stammt von einer Reihe von Literaturverbänden, federführend dem PEN-Zentrum Deutschland und dem zur Gewerkschaft ver.di gehörenden Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller, sowie dem Institut für Medienforschung der Universität Rostock. Ausgewertet hat man insgesamt 2036 Rezensionen, die zwischen 1. und 31. März dieses Jahres, also um die Leipziger Buchmesse herum, in Tages- und Wochenzeitungen, Radio- und Fernsehsendungen in Deutschland erschienen sind. Darunter waren auch 114 Kritiken aus der SZ.

Es geht also in der deutschen Literaturkritik, wenn auch hoffentlich fair, doch nicht geschlechtergerecht zu. Wenn wir uns um diese Erkenntnis auch nicht drücken können, macht uns ein Satz in der Studie doch etwas ratlos: "Ein Vergleich der Ergebnisse mit dem gesamten Publikationsaufkommen nach Gender und Genre im Erhebungszeitraum war nicht durchführbar, da entsprechende Daten bisher nicht vorlagen". Das wäre aber entscheidend, denn wir können ja nur darüber berichten, was publiziert wird. Nur der Vergleich könnte ergeben, ob zum Beispiel viel mehr Bücher von Frauen geschrieben werden, als die Literaturkritik zur Kenntnis nimmt, ob die Wahrnehmungsschwelle für Autorinnen also höher ist als für Autoren.

An dieser Stelle könnten sich ein paar schmerzliche Erkenntnisse verbergen. Es gehört ja nun auch zur Eigenart quantitativer Erhebungen, zumal solcher mit einem engen Untersuchungsbereich, dass sie Probleme stark eingrenzen und eher leicht lösbar erscheinen lassen: Es müssten einfach mehr Frauen rezensieren und mehr Bücher von Frauen rezensiert werden. Und tatsächlich gibt sich gerade der Literaturbetrieb ersichtlich Mühe, geschlechterspezifische Disbalancen auszugleichen. Die Jurys diverser Literaturpreise beispielsweise werden in letzter Zeit zumindest paritätisch mit Männern und Frauen, wenn nicht sogar etwas stärker weiblich besetzt. Das führt auch dazu, dass inzwischen mehr Frauen ausgezeichnet werden. Der soeben an Inger-Maria Mahlke vergebene Deutsche Buchpreis ist ein Beispiel: vier Jurorinnen und drei Juroren haben in diesem Jahr so viele Autorinnen wie nie zuvor auf die Longlist gehoben, nämlich zwölf (und acht Autoren), auf der Shortlist waren dann vier von sechs Büchern von Autorinnen.

Wille und Vorstellung, die Geschlechterverhältnisse zahlenmäßig zu steuern, sind schon vorhanden. Schwerer zu beeinflussen sind dagegen tieferliegende mit intellektueller Arbeit und öffentlicher Rede verbundene Grundannahmen, die auch kaum zu beziffern und nur spekulativ zu benennen sind. Interessant wäre zum Beispiel, ob es eher männlich oder weiblich besetzte Genres gibt. Es könnte ja zum Beispiel sein, dass Frauen seltener als Männer schwere, Epochen und Geistesgrößen in ihrer Totalität darstellende Monografien oder Romane schreiben. Und warum mag das so sein, und werden solche Bücher womöglich selbstverständlicher als seriös und relevant wahrgenommen als andere?

Aller Berichterstattung besonders willkommen sind Autoren, die sich selber in den Medien darstellen und, wie man dann sagt, "engagierte Intellektuelle" sind. Ließe sich der Eindruck belegen oder widerlegen, dass Autorinnen damit zögerlicher sind? Und liegt das überwiegend daran, dass Männer sich zu stark aufmandeln und die Frauen verdrängen, oder gibt es kompliziertere Gründe, die schon mit der Erziehung von Mädchen und unterschiedlichen Bildungsbiografien anfangen?

Zur Selbstverständlichkeit, mit der Männer und Frauen Aufmerksamkeit für sich beanspruchen, enthält die aktuelle Studie zur Literaturkritik jedenfalls eine interessante Zahl: die Kritiken von Männern sind in allen Medien durchschnittlich länger. Da kein Grund zur Annahme besteht, dass Männer mehr zu sagen haben als Frauen, muss es so sein: sie kommen einfach langsamer zum Punkt.

© SZ vom 10.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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