Literatur:Zusammenhänge

Christian Enzensberger

Schwabinger unter sich: Christian Enzensberger (links) und der Autor Kuno Raeber 1987.

(Foto: Scaneg-Verlag)

Sieben Jahre nach seinem Tod wird der Autor, Literaturwissenschaftler und Übersetzer Christian Enzensberger mit einem Buch und Veranstaltungen geehrt

Von Sabine Reithmaier

Die Welt ist sehr ungerecht bei der Verteilung von Nachruhm", schreibt Michael Krüger. "Deshalb weiß ich nicht, ob die klugen Deutschen sich noch in zehn Jahren an diesen eigenartigen kauzigen Schriftsteller erinnern werden." Die Rede ist von Christian Enzensberger, Bruder des älteren Hans Magnus. Sieben Jahre ist der 1931 geborene Autor, Literaturwissenschaftler, Übersetzer jetzt tot, ein Schriftseller, der, ganz ohne weltlichen Ehrgeiz, zu viel wollte und an diesem "blöden Paradox" starb (Krüger). Das Erinnerungsbuch, das der Scaneg-Verlag in diesem Jahr herausgegeben hat, lädt ein, diesen ungewöhnlichen Autor neu zu entdecken ("Christian Enzensberger: Ins Freie"). In drei Kapiteln werden verschiedene Facetten seines Lebens und Werks beleuchtet. Im ersten Teil erinnern sich Weggefährten und Freunde an den vielseitigen Literaturwissenschaftler. Neben Michael Krüger auch Anita Albus, Burkhard Kroeper und Werner von Koppenfels, die sehr anrührende Texte geschrieben haben, die von einer großen Nähe und Sympathie für den Autor zeugen. Teil 2 stellt eine kleine Auswahl an Schriften vor, meist wenig bekannte oder ungedruckte Werke, während sich das dritte Kapitel der Werkdeutung widmet. Ähnlich strukturiert wie das Buch sind die drei November-Veranstaltungen, mit denen der Schriftsteller, der am 24. Dezember 2016 seinen 85. Geburtstag gefeiert hätte, gewürdigt wird.

Der Bruder habe "sehr merkwürdige Dinge" verfasst, schreibt Hans Magnus Enzensberger. Und vor allem sehr viel: 40 000 Seiten Notizen und Tagebücher, auch ein Epos in Nürnberger Dialekt, fanden sich in seinem Nachlass, der inzwischen im Literaturarchiv Marbach liegt.

Früh bekannt wurde Enzensberger durch seine bis heute immer wieder neu aufgelegten Übersetzung der beiden Alice-Bücher von Lewis Caroll, aber auch wegen seiner Fassung der Gedichte des griechischen Nobelpreisträgers Giorgos Seferis. Für den "Größeren Versuch über den Schmutz" (1968), in dem er Schmutz als Wertvorstellung abhandelt, wollte man ihm den Bremer Literaturpreis zuerkennen, was er aber 1970 entschieden ablehnte. Teil des Literaturbetriebs wollte er nicht werden. Im darauffolgenden Roman "Was ist Was" (1987) verflocht er zwei Entwicklungsgeschichten: die der Ich-Figur und die der gesamten Menschheit. "Der Plan: die zwei Geschichten, die keine sind, ineinanderfügen; zusehen, ob sie dann nicht eine werden."

In seinem theoretischen Hauptwerk "Literatur und Interesse" (1977/81) dachte er darüber nach, wie Literatur und Gesellschaft ursächlich zusammenhängen und warum wir immer wieder Literatur lesen, statt etwas anderes zu machen. Das Werk musste in zwei Bänden erscheinen, weil er der Meinung war, der eine Teil sei lesbar, der andere nicht, erinnert sich Krüger.

Bis 1987 lehrte Enzensberger an der LMU englische Literatur und literarische Übersetzung, eindeutig ein "Linksaußen", wie Werner von Koppenfels schreibt. Sich mit schöngeistigen Dingen am Schreibtisch zu beschäftigen, während Arbeiter am Fließband schwitzten, zwang den sensiblen Intellektuellen zu einer ständigen Selbstrechtfertigung. Die Uni als gesellschaftliche Einrichtung erschien ihm zunehmend suspekt. Schließlich ließ er sich vorzeitig emeritieren. Er wollte ins Freie, zu den Isarsteinen, die sich mit ihm unterhielten - auf Fränkisch. Anscheinend fand er dort im Zwiegespräch den Sinn wieder, der ihm im Leben "unter dem Geldhimmel" verloren gegangen war. Seine "Geschichte der Natur" blieb unvollendet, auch wenn nach seinem Tod ein Teil davon unter dem Titel "Nicht Eins und Doch" erschien: 500 Seiten, nur ein Zweihundertstel des Rohmaterials. Es bleibt noch viel zu entdecken.

Literarische Werke, Freitag, 4. Nov., 20.30 Uhr, Autoren Galerie 1, Pündterplatz 6, gelesen von Wolfgang Gretscher und Christiane Wyrwa LMU-Seminare, Übersetzer-Studiengang, Naturphilosophie, Dienstag, 8. Nov., 19 Uhr, Lost Weekend, Schellingstraße 3 Übersetzungen, Donnerstag, 10. Nov., 20 Uhr, Literaturhaus München, Bibliothek, u.a. mit Burkhart Kroeber und Werner von Koppenfels

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