Literatur zur Oktoberrevolution:Schweigen in einer geschwätzigen Zeit

Der erste Band der im Verborgenen geführten Tagebücher von Michail Prischwin zeigen das geheime Hauptwerk eines oberflächlich angepassten Autors. Er hinterlässt darin Vignetten des revolutionären Chaos im Russland der Jahre 1917 bis 1920.

Von Stephan Wackwitz

Als John Updike 1964 die Sowjetunion bereiste, schenkte ihm seine Dolmetscherin zum Abschied und Andenken einen Band des Verlags für fremdsprachige Literatur: Nature Writing von Michail Prischwin. An ihrer Geste kann man ablesen, welche Stellung diesem Schriftsteller im Ensemble der Sowjetliteratur zugewiesen war. Auch auf Russisch, das sollte der berühmte amerikanische Gast wissen und mit nach Hause nehmen, gab es - abseits des offiziellen sozialistischen Realismus - Prosa einer Qualität, die sich mit Updikes Kunst messen konnte. Und die subtilen Feldbeobachtungen und Waldläuferprotokolle des russischen Naturschriftstellers Prischwin sollten den großen amerikanischen Leser und Kenner, wenn er wieder in seiner Heimat war, an jene geheimnisvolle (vielleicht imaginäre) Entität erinnern, die man die russische Seele nennt.

Michail Michailowitsch Prischwin, Jahrgang 1873, stammte aus einem Dorf im westrussischen Schwarzerdegebiet. In seiner Studentenzeit als angehender Agronom in Riga fiel er den Autoritäten durch sozialistische Sympathien ins Auge, die sich nach Bekanntschaft mit der bolschewistischen Revolution allerdings schnell verflüchtigten. Trotzdem grüßte Prischwin in der Folge dann sorgfältig alle jeweils erforderlichen revolutionären Gesslerhüte, vermied durch apolitische Distanznahme die Bekanntschaft mit den bolschewistischen Säuberungen und war deshalb spätestens Mitte der 20er-Jahre dank seiner brillanten Naturtagebücher, einem autobiografischen Roman und einiger Erzählungen bis zu seinem Tod im Jahr 1954 eine gesetzte Größe im literarischen Establishment der Sowjetunion.

Erst nach 1990 wurde bekannt, dass während all dieser Anpassungs- und Arrivierungsanstrengungen ein klandestines Hauptwerk von monumentalen Ausmaßen entstanden war: Prischwins Tagebücher, die in einer vierbändigen Auswahl der Übersetzerin Eveline Passet 2019 auf Deutsch zu erscheinen begonnen haben - womit der Guggolz-Verlag sein bewundernswertes Engagement für das vergessene Universum der osteuropäischen Moderne fortsetzt.

Prischwins Notizen von 1917 bis 1920, vom Oktoberputsch bis zum Sieg der Roten Armee im Bürgerkrieg, füllen den ersten Band. Sie haben zwei gegensätzliche Schauplätze. Im revolutionären St. Petersburg korrespondiert der Dichter mit Trotzki, pflegt Umgang mit Kamenew und lernt infolge eines unbotmäßigen Artikels das bolschewistische Rechtswesen und seine Gefängnisse kennen. In seinem Heimatdorf, wohin er danach seinen Lebensmittelpunkt verlegt, beobachtet er Bürgerkrieg und Revolution auf dem Land.

Literatur zur Oktoberrevolution: Szene revolutionärer Mobilisierung: 1917 bei der Erstürmung des St. Petersburger Winterpalais.

Szene revolutionärer Mobilisierung: 1917 bei der Erstürmung des St. Petersburger Winterpalais.

(Foto: imago / Photo12)

Auch für einen historisch einigermaßen beschlagenen und illusionslosen Leser ist es schockierend und deprimierend, in Michail Prischwins Aufzeichnungen authentische Vignetten aus dem Inneren des revolutionären Chaos nachzuerleben: die allgemeine Plünderei und Gewalttätigkeit, die jahrhundertalte, jetzt plötzlich "revolutionär" mobilisierte Idiotie des Landlebens, die mit hochtrabenden Phrasen kostümierte Inkompetenz, die unfreiwillige Komik und das allseitige gesellschaftliche Unglück, aus dem die angeblich "Große Sozialistische Oktoberrevolution" in Wirklichkeit bestanden hat.

Prischwin beobachtete "Analphabeten (...) in den Händen eines Häufleins von blutrünstigen Gelehrten" und den schreienden Gegensatz von Menschheitspropaganda und Pogrom: "Um des Wohles der ganzen Menschheit willen wird gegen lebendige Menschen grausame Gewalt ausgeübt, doch aus Erbarmen für unseren sichtbaren Menschen beginnt da und dort ein Aufstand."

Der Schriftsteller und studierte Agronom versucht zunehmend verzweifelt und resigniert, ein ererbtes Grundstück zu bewirtschaften und vor "Expropriation" zu schützen, er arbeitet als Lehrer, nimmt an den Volksversammlungen teil, verhandelt mit dem Dorfsowjet, protokolliert Gerüchte, Zeitungsmeldungen, belauscht Gespräche und urban legends und kämpft mit den entsetzlichen Lebensverhältnissen: "In den Häusern herrscht eine Kälte wie in Schützengräben, die Körperläuse vermehren sich auf den Menschen. Wir fuhren ins Dorf, um uns zu waschen."

Prischwin war sich darüber im Klaren, dass er sich mit diesen Notaten in Lebensgefahr begab. Trotzdem führte er sie durch die finsteren Zeiten des Stalinismus hindurch bis zu seinem Tod weiter. Erst nach dem Untergang der Sowjetunion wurden sie auf Russisch veröffentlicht: 18 Bände, aus denen der deutsche Verlag seine auf vier projektierte Auswahl zusammengestellt hat.

Die Dorflehrerexistenz Prischwins während des Bürgerkriegs gleicht in der Zerissenheit zwischen Anpassung an die offizielle Lüge und genauester Beobachtung der Wirklichkeit derjenigen Wilhelm Lehmanns, jenes deutschen Naturschriftstellers und Kleinstadtlehrers zur Zeit des Nationalsozialismus und der "Inneren Emigration", dessen nach 1945 berühmt gewordenes "Bukolisches Tagebuch" er nach dem Krieg kennengelernt haben könnte.

Autor Michail Prischwin

Die politische Dimension des Nature Writing: der Tagebuchschreiber Michail Prischwin (1873 – 1854).

(Foto: Guggolz Verlag)

Weniger die äußeren Lebensumstände als die souveräne und gleichsam hochmütige Wendung von der politischen Misere zum unberührten Leben der Natur ist von frappierender Parallelität. "Beim Lesen von Maeterlincks 'Das Schweigen' kam ich auf die Idee, unsere schwülstiggeschwätzige Zeit vom Schweigen her zu erhellen: zu erhellen, worüber die Russen während der Kommune schwiegen, es nicht unter dem Druck der äußeren Gewalt verschwiegen, sondern davon schwiegen, weil es nicht sagbar war. Wer weiß, vielleicht spielt die Gewalt der Zensur gegen das Wort ja auch die Rolle des Schnees, der gegenwärtig unsere Felder bedeckt: Er richtet die Stängel und Blüten zugrunde, schützt aber die unterirdischen schweigenden Wurzeln", schreibt er - oder mit der Lakonie eines japanischen Haiku: "Unter dem Schnee hervorkommende Blüten. Lenin ist ein Popanz."

Die Lektüre der Tagebücher Michail Prischwins ist eine gute Einführung in das Werk eines bedeutenden und in Deutschland so gut wie unbekannten russischen Schriftstellers. Und sie kann einen belehren über die verschwiegene politische Dimension des derzeit von breiten Leserschichten wiederentdeckten und oft als Luxusartikel missverstandenen Genres des Nature Writing.

Michail Prischwin: Tagebücher. Band I. 1917 - 1920. Aus dem Russischen, herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort von Eveline Passet. Mit einem Essay von Michail Schischkin. Guggolz Verlag, Berlin 2019. 457 Seiten, 34 Euro.

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