Literatur:Worte mit Widerhall

Lesezeit: 4 min

Verleiht seinen Texten Nachdruck: Juri Andruchowytsch am Montag beim Konzert mit der Band Karbido im Muffathallen-Café. (Foto: Mila Pavan)

Der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch spricht anlässlich des Münchner Festivals "Brücke aus Papier" über sein Heimatland, politisches Engagement und die Bedeutung des Saufens

Von Anna Weiß

Zwei Ukrainer treffen sich zufällig in der Lobby eines Münchner Hotels und unterhalten sich über ihre Anreise. Der eine erzählt, dass er am Vorabend mehr als sechs Stunden mit dem Bus von Frankfurt nach München gefahren sei. Der andere pfeift ungläubig. "Ach, das ist doch ganz normal", sagt der Ältere und lacht.

Bei den beiden Männern, die sich zufällig treffen, handelt es sich um zwei der renommiertesten ukrainischen Schriftsteller. "Das war Serhij Zhadan", sagt Juri Andruchowytsch, der ältere der beiden, und setzt sich wieder. Lyriker, Essayist, Romanautor, Feuilletonist: Der 59-Jährige gilt als einer der wichtigsten Intellektuellen der Ukraine, dieses zerrissenen Landes, das im Zentrum Europas liegt und über Jahrhunderte von verschiedenen Großmächten und Königreichen beherrscht wurde. Zuletzt von der Sowjetunion - und immer noch wird es von Russland bedrängt.

Andruchowytsch, der mit zwei Freunden in den Neunzigerjahren eine Lyrik-Performance-Gruppe gründete und mit ihnen den Dadaismus in seiner Heimatstadt Iwano-Frankiwsk etablierte, die ukrainische Literatur revolutionierte, sieht an diesem Vormittag vor allem etwas zerknittert aus. Die lange Reise vom Vortag hat ihre Spuren hinterlassen, aber das ist der Schriftsteller gewohnt. Das Motiv der Reise zieht sich durch sein Werk. Er ist seit Anfang Oktober unterwegs, war zuvor bei der Frankfurter Buchmesse, nun ist er mit dem deutsch-ukrainischen Literaturfest "Brücke aus Papier" erst in München, dann in Berlin.

Das Festival ist für ihn ein besonderes: "Normalerweise sind Literaturfestivals auf den Zuschauer ausgelegt. Bei der Brücke liegt der Fokus auf der inneren Zusammenarbeit, wie ein Treffen", sagt Andruchowytsch. Gegründet 2014, zu Zeiten des Euromaidans, fand die "Brücke aus Papier" bis zu diesem Jahr immer in der Ukraine statt und nun zum ersten Mal in Deutschland. Warum ist dieser Kontakt zwischen den beiden Ländern so wichtig? "Jeder Austausch ist für uns wichtig! Über unser Land wird zu wenig berichtet, auch kulturell", sagt der Autor. Außer zwei, drei bekannten Namen sei die vielfältige literarische Landschaft in Deutschland unzureichend bekannt.

Juri Andruchowytsch spricht mit tiefer, dröhnender Stimme Deutsch, eine ukrainische Färbung klingt durch. 1992 war er zum ersten Mal im Westen - in München. Ein Stipendium der Stadt führte ihn in die Villa Waldberta in Feldafing. Dort schrieb der junge Autor seinen zweiten Roman: "Moscoviada". Das Buch beschreibt eine düstere und zugleich absurde Episode aus dem Leben eines jungen Literaturstudenten im Moskau des Jahres 1992, dem "Zentrum des Verfalls", wie Andruchowytsch es nennt. In seinen Werken treffen mythische Begriffe und unzählige Anspielungen aus verschiedensten kulturgeschichtlichen Epochen auf karnevaleske Elemente und scheinbar trockene Phänomene wie Grenzen oder Territorien. Die für Andruchowytsch keinesfalls trocken, sondern essenziell sind: Durch das Reisen und die Erfahrungen mit Grenzen und ihren politischen und sozialen Auswirkungen hat der Autor ein System für sich erschaffen, das er zunächst "Weltanschauung" nennt. Dann revidiert er das: Es sei ein "kreatives Modell". Dieses Modell nennt er "Geopoetik", eine Anspielung auf die Geopolitik, in der Großmächte Territorien ohne Rücksicht auf persönliche Verluste und Identitätsgefühle der Bewohner unter sich aufteilen. "Geopoetik stellt diese brutale Geopolitik infrage", sagt Andruchowytsch. In seiner Literatur verarbeitet er die Auswirkungen dieser Politik. Das Wort Grenze hat für ihn eine besondere Bedeutung: Das Äquivalent des deutschen Worts "Ausland" heißt im Ukrainischen "hinter der Grenze liegend".

Aufgewachsen ist Andruchowytsch in der nach außen abgeschotteten Sowjetunion. Seine Eltern und seine Großmutter seien keine Dissidenten gewesen, jedoch nicht in der Partei und darauf bedacht, ihre Ruhe zu haben und damit beschäftigt, das materielle Überleben zu sichern. "Im Nachhinein weiß ich gar nicht, wie wir das ertrugen. Das war ganz nah an der Armut - aber das war normal. Es gab Millionen, die wie wir lebten." Er hält inne. "Aber es war immer noch besser als in den Zeiten, in denen die Westukraine unter der Herrschaft von Polen oder Österreich-Ungarn stand."

In den Jahren 1989 und 90 wurden Freunde und er von der Idee erfasst, dass die Ukraine unabhängig sein soll. Sie war die Heimat, die Sowjetunion aber war eine "nichtgewählte Heimat", wie Andruchowytsch lakonisch feststellt. Er schrieb Flugblätter, die in baltischen Ländern gedruckt und mit einem Kurier zurückgeschickt wurden. Wenn er davon erzählt, lächelt er, es klingt nach einer aufregenden Zeit, aber dann winkt er ab, das sei nur ganz kurz gewesen. Über sein aktuelles politisches Engagement möchte er nicht sprechen. Er sagt, er sei nicht politisch aktiv, nur literarisch. Nur um anschließend zu erwähnen, dass es in seinen wöchentlichen Kolumnen hauptsächlich um Politik geht.

Juri Andruchowytsch plädiert dafür, dass sich die Ukraine von Russland und den Nachwehen der Sowjetunion emanzipieren soll, die auch das persönliche Leben der Menschen prägten. In seinen Romanen wird exzessiv gesoffen, in seinem Debütroman "Karpatenkarneval" von 1992, erst in diesem Jahr auf Deutsch erschienen, trinkt sich eine Dichterrunde in einen amtlichen Rausch. Andruchowytsch lacht: "Wir waren damals eben so unterwegs." Und fügt danach so knapp wie ernüchternd hinzu: "Wir hatten zum Teil auch nichts anderes für unser Vergnügen." Heute sei das anders. "Ich habe aufgehört zu saufen. Ich kann mich nicht mal erinnern, wann ich zum letzten Mal Wodka getrunken habe." Dafür habe er jetzt guten Wein für sich entdeckt.

Was passiert mit der Ukraine nach der Sowjetunion, nach dem Suff? Ohne den betäubenden Rausch können nun andere Länder bereist werden, kann der Austausch intensiviert werden. "Wir sind schon von Russland getrennt, aber wir sind noch nicht Teil von etwas anderem geworden. Wir hoffen, dass wir ein integraler Teil von Europa und Mitglied der Europäischen Union werden." Juri Andruchowytsch wünscht sich das seit Jahren. Damit Grenzen noch leichter überwunden werden können, persönlich und künstlerisch.

© SZ vom 24.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: