Literatur:Unsere dunkle Seite

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Als Mitbetreiber der Favorit Bar kennt Matthias Hirth das Nachtleben bestens, über das er schreibt. (Foto: privat)

In seinem neuen Roman "Lutra lutra" erzählt Matthias Hirth von Fleck, der 1999 in einem Selbstversuch zum Partysoldaten und Grenzüberschreiter wird

Von Anna Steinbauer

Wenn du auf der Tanzfläche plötzlich dir selbst mit einem Bier in der Hand gegenüber stündest, was würdest du von dir halten? Fändest du dich attraktiv? Würdest du dich ansprechen? Fragen dieser Art stellt sich Fleck, der Protagonist des Romans "Lutra lutra" (Voland & Quist) von Matthias Hirth. Sein ganzes Leben hat Fleck versucht, sich mit den konventionellen Vorstellungen von Beziehung und Beruf zu arrangieren. Jetzt hat er genug von seinem bürgerlichen Hetero-Dasein - Fleck will mehr, und vor allem will er es: wild. Die Erbschaft seiner Tante ermöglicht es ihm, tief in das Nachtleben einzutauchen, ohne montags fit sein zu müssen. Und seiner sexuellen Attraktivität nachzuspüren, immer auf der Suche nach wirklicher Stärke.

"Was würdest du tun, wenn du etwas Böses tun wolltest? Diese Reizfrage zieht sich durch", sagt Matthias Hirth. Sein Buch bezeichnet er selbst als Überschreitungsroman: "Es geht um die Lust am Risiko und den Spaß, den junge Leute an der Verworfenheit haben." Der Münchner Autor weiß, wovon er auf seinen mehr als 700 Seiten berichtet. Schließlich ist er Mitbetreiber der Favorit Bar und hat selbst schon einige Jahre Nachtleben vor und hinter dem Tresen erlebt.

Sex, Drugs und Rock 'n' Roll eben. Oder besser: Techno und neue Drogen. Die Handlung von "Lutra lutra" ist 1999 angesiedelt, dem Jahr des Fischotters, dessen lateinischer Name zugleich Romantitel ist. Die Technokultur steht noch in voller Blüte, kurz darauf bricht das neue Jahrtausend mit Wirtschaftskrise, Neoliberalismus und Terrorismus an: "1999 ist das letzte Jahr der guten alten Zeit. Seitdem hat sich alles sehr zugespitzt", sagt Hirth. "So ein Selbstversuch wie Fleck ihn macht, ist heute gar nicht mehr möglich." Selbstoptimierung und die totale Affirmation des neoliberalen Systems waren noch nicht in Gang gesetzt, das Internet steckte noch in den Kinderschuhen. So mutiert Fleck zum harten Partysoldaten, der seine Bisexualität auslotet und Sex als Sportart betreibt. Wie ein Fischotter bewegt er sich durch das Nachtleben. Unglaublich elegant und spielerisch tänzelnd, ein dennoch gefährliches Raubtier. "Fleck verottert, könnte man sagen", sagt Hirth. Der Otter ist zudem innerhalb der Schwulen-Community eine gängige Bezeichnung für jüngere Männer mit Schwimmerkörpern.

Der Autor, der ursprünglich vom Theater kommt, hatte die Idee für "Lutra lutra" bereits 1996. Seitdem sammelte er systematisch Geschichten und Erlebnisse: "Man schreibt natürlich mit sich selbst und aus der eigenen Erfahrung", sagt Hirth. Die Neunzigerjahre sieht er als historisch einmalige Situation mit einem wilden Nachtleben, vor allem in Berlin: "Auf der Straße steht ein Stuhl, du steigst durch den Stuhl ins Fenster und bist in 'nem illegalen Club, wo du vor lauter Ölnebel nichts mehr siehst." Aber auch in München gab es diese Inseln der Hemmungslosigkeit: "Ich habe das ziemlich mitgemacht in beiden Städten." Drogen und Musik seien zwar überall gleich gewesen, die Orte in Berlin aber besser. Noch immer ziehe man in München jede Lärmschutzbestimmung knallhart durch, sagt Hirth. Selbst vor der Favorit Bar stünden die Türsteher hauptsächlich, um den Lärm zu dämmen. Welchen Platz das Wilde noch in der Gesellschaft habe? In München immer weniger: "Wer Geld verdienen muss, kann nicht wild sein."

Seit 2000 ist der 1958 geborene Hirth hauptsächlich als Schriftsteller tätig, vorher arbeitete er als Schauspieler und Regisseur. 2005 erhielt er das Literaturstipendium der Stadt München, 2007 erschien sein Roman "Angenehm" über künstliche Intelligenz. Dieser bescherte ihm in den vergangenen drei Jahren einen ungewöhnlichen Job. Zusammen mit zehn Münchner Autoren und Filmemachern baute er einen "Thinktank" für einen großen süddeutschen Automobilkonzern auf. "Wir haben als Künstler die Wirtschaft beraten", sagt Hirth. Die Gruppe untersuchte 100 Science-Fiction-Romane nach ihren Gesellschaftskonzepten. Mentale Konzepte und soziale Beziehungen, so die Ergebnisse ihrer Analyse, spielten die Hauptrolle in den Zukunftswelten, die Technik sei gar nicht der wesentliche Punkt. Außerdem stellten sie laut Hirth fest: "Weibliche Autorinnen denken weiter als männliche." Viele männliche Autoren betrieben eine Fortschreibung des Western-Erzählmodells von Expansion, Frauen hingegen hätten andere Dramaturgien und Erzählkonzepte.

Auch im Roman werden Männerbilder und Geschlechterrollen hinterfragt. Flecks Suche nach Stärke hat eine spirituelle Dimension. Wie kann ich leben, ohne die Angst unterzugehen? Hinter dieser Frage steckt eine Kraft, die Fleck dahin treibt, wo es schmerzt. "Die steckt auch in Überschreitungsritualen wie Bungee-Springen", so Hirth. "Oder man findet sie bei Uli Hoeneß, der die Steuer betrügt." Diese dunkle Seite in uns gilt es aufzuspüren: "Wenn wir sie nicht ausloten, dann sind wir mit ihr identisch."

Matthias Hirth: "Lutra lutra", Mi., 6. April, Favorit Bar, Damenstiftstr. 12, 20.30 Uhr

© SZ vom 06.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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