Literatur und Zeitgeschichte:Die Hyäne und der Antisemitismus

Dreyfus / Le Traitre / Plakat, Paris 1899

Die Dreyfus-Affäre als Antisemitismus-Maschine und die Karikatur als Kampfinstrument: Dreyfus als Lindwurm des Verrats im „Museum der Schrecken“ auf einem Plakat aus dem Jahr 1899.

(Foto: akg-images)

Die Marcel-Proust-Gesellschaft widmet ihre Jahrestagung dem Thema "Proust und das Judentum".

Von Lothar Müller

Seinen letzten großen Auftritt in Marcel Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit" hat Charles Swann bei der Soirée der Prinzessin von Guermantes. Der Kunstkenner, der im Jockeyclub verkehrt, vom ersten Band an der Mentor des Erzählers, ist hier schon vom Tod gezeichnet und eine Figur der Desillusionierung nicht nur deshalb, weil er sich in seiner großen Liebe zur Halbweltdame Odette getäuscht hat. Er, dem jeder Salon offenstand, ist im Zuge des Aufloderns der Dreyfus-Affäre, zu einem Gesprächsgegenstand geworden, dessen Parteinahme für den auf die Teufelsinsel verbannten jüdischen Offizier mit Argusaugen betrachtet wird.

Marcel, der Erzähler, schildert die Metamorphose seiner Physiognomie durch die Arteriosklerose im Blick ausgerechnet auf die Nase Swanns, die nun "eher wie die eines alten Hebräers als eines sonderbaren Valois" wirkt, und fügt hinzu: "Vielleicht ließ in seinen letzten Tagen die Rasse den für sie charakteristischen Typ bei ihm rein körperlich ebenso deutlich in Erscheinung treten wie das Gefühl moralischer Solidarität mit den anderen Juden, ein Gefühl, das Swann sein ganzes Leben lang vergessen zu haben schien und das jetzt, als eines zum andern kam - die tödliche Krankheit, die Dreyfus-Affäre und die antisemitische Propaganda - in ihm wach geworden war."

In Sätzen wie diesen steckt das Unruhepotenzial des Titels "Proust und das Judentum", unter dem am Wochenende im Berliner Literaturhaus die Jahrestagung der Marcel-Proust-Gesellschaft stattfand. Die Unruhe betrat schon im Eröffnungsvortrag von Andreas Isenschmid (Berlin) die Bühne. Der Schweizer Literaturkritiker und Autor des Buches "Marcel Proust. Leben in Bildern" (2017) zeigte im Rückgriff auf die ersten Entwürfe der "Recherche", dass der emphatisch als Jude gezeichnete Charles Swann am Ursprung der Recherche steht. An die Stelle der affektiven Nähe tritt dann aber im ausgeführten Roman die analytische Distanz, das Judentum Swanns klingt nur in wenigen Anspielungen an, ehe es im Zuge der Dreyfus-Affäre, der großen "Antisemitismus-Maschine", an Bedeutung gewinnt.

Wie sahen die frühen Leser Prousts den Sohn eines Katholiken und einer Jüdin?

Im Blick auf Swann allein aber lässt sich über "Proust und das Judentum" nicht sprechen. Marcels Schulkamerad Albert Bloch und seine Familie sind der Gegenpol. Verkörpert Swann am Ende die Tragödie der assimilierten Juden, so sind Bloch und sein "orientalischer" Clan fester Bestandteil der Komödie der Assimilation. Aber bewegt sich Marcel, der Erzähler, noch im Rahmen der Satire, wenn ihm Bloch bei seinem ersten großen Salonauftritt erscheint, "als käme er aus der tiefsten Wüste, mit hyänenhaft gekrümmtem Leib", wenn er in Bloch die "bewundernswerte Kraft der Rasse" verkörpert sieht, "die aus der Tiefe der Zeiten bis in das moderne Paris hinein ... eine intakte Phalanx vorrücken lässt"?

Nein, befand Isenschmid, das ist mehr als Satire, hier ist die Verwandtschaft mit den zeitgenössischen Klassikern des Rassedenkens, den Schriften Arthur de Gobineaus oder dem antisemitischen Bestseller "La France juive" des Journalisten Édouard Drumont offenkundig. Dennoch blieb Isenschmids Befund ambivalent. Er sah in den Invektiven gegen Bloch eine in der Erzählerstimme errichtete spanische Wand, mit der Proust seine Verwandtschaft mit dem jungen Bloch zu verbergen sucht.

Während der Soirée, die auch der todkranke Swann besucht, verteilt der junge Bloch Unterschriftenlisten für den Oberst Picquart, der Belege für die Unschuld von Dreyfus beibrachte und das Projekt einer Revision des Prozesses entscheidend beförderte. Es ist aber, wie Patrick Bahners (Köln) zeigte, nahezu unmöglich, im Blick auf die erkenntniskritischen und wissenssoziologischen Spiegelkabinette des Romans zu klären, welche Position zur Dreyfus-Affäre der Autor einnahm. Dass er wie der junge Bloch den Prozess fieberhaft verfolgte und für Dreyfus eintrat, lässt die Erzählerstimme nicht erkennen.

Aber sie weiß, wovon sie spricht, wenn sie von Swann oder Bloch als von "Israeliten" spricht, wie Evelyne Bloch-Dano (Paris), Autorin eines Buches über Jeanne Weil, die jüdische Mutter Prousts, im Blick auf die Genealogie der aus dem Elsass nach Paris gekommenen Juden zeigte. Wie in Deutschland der "Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" stand in Frankreich der Zentralrat der "Israeliten" für die Integration der Juden in die französische Gesellschaft, Swann hat es darin schon sehr viel weiter gebracht als die Blochs, aber die Dreyfus-Affäre unterminiert diese Ansätze zu eben dem Zeitpunkt, als der im frühen 19. Jahrhundert noch geringfügig Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung durch die Zuwanderung aus Osteuropa zunimmt.

Wie sahen die frühen Proust-Leser den Sohn eines Katholiken und einer Jüdin? Wie seine jüdischen Figuren? Antoine Compagnon (Paris) gab darauf eine überraschende Antwort. In ihren Zeitschriften - Menorah, Palestine etc. - reklamierten die Aktivisten des Zionismus Proust für sich. Die Entdeckung des "Halbjuden" Proust war ihr Werk, in den Judenfiguren der "Recherche" sahen sie ihre Kritik des assimilierten Judentums bestätigt.

Albert Cohen entdeckte im Stil Prousts ein Echo des Talmud, und unter der Formel "Juifs et Demi-Juifs" machten Albert Thibaudet und andere Proust zum Nachfahren Montaignes, dem immer schon eine jüdische Mutter zugeschrieben worden war, und die "Recherche" zur Vollendung der Essais im modernen Roman.

Wie Thomas Sparr (Berlin) berichtete, witterten dagegen nach Palästina gegangene Juden in Proust das "Gift des Antisemitismus", so der Autor Schin Schalom 1943 in seiner Rezension des Bandes "Im Schatten junger Mädchenblüte", in dem der junge Bloch am Strand von Balbec über die Juden herzieht. Schaloms Angriff widersprach sogleich Gershom Scholem, unter Verweis auf seine Freundschaft mit dem Proust-Übersetzer Walter Benjamin. Er begründete damit, so Sparr, eine Tradition, in der von Hannah Arendt bis zu Peter Szondi Proust zum Medium der Reflexion über das moderne Judentum wurde. "Proust und das Judentum" - der Tagungstitel führt zum Widerspiel von Antisemitismus und jüdischer Selbstbehauptung vor 1933.

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