Süddeutsche Zeitung

Literatur- und Seuchengeschichte:Böses Komma

Als die Epidemiologie eine junge Wissenschaft war, waren ihre Erfolge eng mit dem Kolonialismus verflochten. Einer ihrer führenden Vertreter: der Vater von Marcel Proust.

Von Lothar Müller

Wenn Doktor Cottard aus dem Salon der Madame Verdurin zu einem Patienten gerufen wird, hat er gerade eines seiner nicht selten peinlichen Wortspiele produziert. In einem Porträt Tintorettos erkennt Charles Swann die gequetschte Nase, den durchdringenden Blick und die verschwollenen Lider des Doktor du Boulbon. Wenn Professor Dieulafoy, den schon sein Name mit einer würdevollen Aura umgibt, den Raum betritt, glaubt der Erzähler sich in ein Theaterstück von Molière versetzt. Über dem Schwarm von Ärzten, der Marcel Prousts Romanzyklus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" durchzieht, liegt ein Zwielicht, das gelegentlich die Regionen der Karikatur streift.

Marcel Prousts Vater Adrien Proust und sein Bruder Robert waren Ärzte. In den Briefen des Sohnes taucht der Vater häufig auf, aber so wenig wie der Bruder hat er ein Gegenüber im Roman. Doch im Erzähler, der das Reservoir seiner Vergleiche aus einer imaginären Enzyklopädie zu schöpfen scheint, zirkuliert das medizinische Wissen. Die Krankengeschichte des Autors, der an Asthma litt, führt ihm Lebensstoff zu. Oft ist vermutet worden, in die Studie zur Neurasthenie, die Adrien Proust 1897 veröffentlichte, sei die Beobachtung seines Sohnes eingegangen. Im Roman des Sohnes wiederum fällt kaum einmal der Blick auf das Gebiet, dem der Vater seine Karriere als international bekannter Mediziner verdankte, dem er die große Mehrzahl seiner Schriften widmete. Dieses Gebiet war die öffentliche Hygiene, die Entwicklung von Präventions- und Quarantänemaßnahmen gegen die Epidemien, in erster Linie gegen die seit 1830 in Europa immer wieder aufflammende Cholera.

Als schweren, unaufhaltsam in die Regionen der Unheilbarkeit übergehenden Krankheitsverlauf schildert der Erzähler die in Qualen der Eifersucht führende Liebe des gebildeten, in den höchsten sozialen Kreisen verkehrenden Charles Swann zu Odette de Crecy. Die Beharrlichkeit, mit der Swann deren kaum verhüllte Existenz als Kokotte übersieht, ist eines der Krankheitssymptome.

Der Bazillus hat im Roman des Sohnes nur einen Gastauftritt, dem Vater ist er Schlüsselfigur

Als die Prinzessin des Laumes im Salon der Madame de Sainte-Euverte nach längerer Zeit wieder auf Swann gestoßen ist, bemerkt sie am Abend zu ihrem Gatten, wie lächerlich es doch sei, dass ein so gescheiter Mann wie Charles Swann sich wegen einer so unbedeutenden Person, von der man sage, sie sei durchaus dumm, in Kummer verzehre. Ein Mann von Geist solle nur unglücklich sein wegen einer Frau, die das auch verdiene. Kühl merkt dazu der Erzähler an: "Mit dem gleichen Recht wundert man sich, dass sich jemand herbeilässt, wegen einer so unscheinbaren Kreatur, wie der Kommabazillus es ist, an Cholera zu erkranken."

Im Roman des Sohnes hat der Kommabazillus nur einen Gastauftritt. In den Schriften wie im Leben des Vaters Adrien Proust ist der"bacille virgule" eine Schlüsselfigur beim Übergang der Seuchenbekämpfung und noch jungen Epidemiologie ins Zeitalter der Bakteriologie. Als Robert Koch 1883 in den Cholera-Gebieten Ägyptens den Erreger entdeckte und 1884 in Indien als Krankheitsursache bestätigte, nannte er ihn wegen seiner Form "Kommabazillus". Der Name, der auf ein unscheinbares Schriftzeichen verwies, passte zum Mikroskop, dem Instrument seiner Entdeckung, er passte in eine Epoche, in der die immer strengere Philologie an den Nachweis der Existenz oder Nichtexistenz eines Kommas in Originalmanuskripten ganze Interpretationsgebäude zum Einstürzen brachte und die Lupe Sherlock Holmes' zum Emblem für die Aufdeckung von Minimalursachen im Kriminalroman wurde.

Der Titel von Adrien Prousts großer Abhandlung "La Défense de l'Europe contre le Choléra" (1892) brachte sein Lebensthema auf die kürzeste Formel. Der Autor firmierte nicht nur als Professor für Hygiene an der Pariser Universität und Generalinspekteur des französischen Gesundheitswesens, sondern zudem als Vertreter der französischen Regierung bei den internationalen Gesundheitskonferenzen 1874 in Wien, 1885 in Rom und 1892 in Venedig. Auf der Konferenz in Rom war Adrien Proust mit Robert Koch zusammengetroffen. In seinem neuen Buch würdigte er die Entdeckung des "bacille virgule" und erwies sich als aufmerksamer Leser des Berichts, den Koch und sein Mitarbeiter Georg Gaffky über ihre Expedition nach Ägypten und Indien in den Jahren 1883/84 publiziert hatten. Adrien Proust war kein Labortüftler wie Koch, aber er hatte wie dieser Teil an der Erforschung der territorialen Ansteckungswege der Cholera.

In seinen "Essai sur l'Hygiène internationale", der 1873, zwei Jahre nach der Geburt seines Sohnes Marcel erschien, gingen nicht nur klinische Beobachtungen und das Studium medizinischer Literatur zu Pest, Gelbfieber und Cholera ein, sondern auch sein Einsatz beim Kampf gegen die Cholera-Epidemie in Frankreich 1866 und die Erfahrungen der 14 000 Kilometer langen Reise, die er 1869 im Auftrag des Ministeriums für Landwirtschaft und Handel in die Grenzregionen zwischen Russland und Persien und durch das Osmanische Reich unternommen hatte, um die Ausbreitung der Cholera von Asien nach Europa zu erforschen. Er war in Teheran vom Schah empfangen worden, hatte in Mekka den Zug der Pilger um die Kaaba beobachtet.

Prousts Lebensaufgabe: die Verteidigung Europas gegen die Cholera am Suezkanal

Adrien Proust war Feldforscher, der die Brücke schlug von den Laborräumen zum geografischen Raum. Das aus den 1820er-Jahren stammende Konzept des "cordon sanitaire", das er aufgriff und modernisierte, war als territoriale Sperre gegen die Ausbreitung der Cholera auf dem Landweg entstanden. Zur Lebensaufgabe, der sich Adrien Proust verschrieb, gehörte die Verteidigung Europas gegen die Cholera an dem Ort, den er als entscheidende Risikozone identifiziert hatte. Diese Risikozone war der im Jahr 1869 eröffnete Suezkanal.

Einen Riesenfonds von Aktien der Suezkanal-Gesellschaft besitzt im Roman Marcel Prousts die Prinzessin von Parma. Sie müssen aus der Frühzeit des Projekts stammen, als er noch ein französisch dominiertes Projekt war. 1875 hatte England, das den Kanal ursprünglich hatte verhindern wollen, vom hoch verschuldeten Osmanischen Reich dessen Gesamtaktienanteil übernommen, 1882 hatten die Engländer Ägypten unter fadenscheinigen Vorwänden besetzt. Als Adrien Proust zur Verteidigung Europas gegen die Cholera die Verkehrsstatistiken des Suezkanals auswertete, fuhren 80 Prozent der Handelsschiffe, die seine Risikozone durchquerten, unter britischer Flagge. In seinen Schriften ist der englisch-französische Gegensatz eine Konstante.

Die internationalen Gesundheitskonferenzen gingen nicht von ungefähr auf die Initiative Frankreichs zurück, das auch in der Folgezeit die treibende Kraft für Quarantänemaßnahmen blieb. Die verheerende Cholera-Epidemie der Jahre 1830/31, die vom Osten her Europa erfasst hatte, hatte die Seuchenprävention auf die Tagesordnung gesetzt. Die Pest, die ein Handelsschiff 1720 nach Marseille getragen hatte, war in Frankreich nicht vergessen, als das Mittelmeer durch den Suezkanal eine Meeröffnung Richtung Asien erhielt und zugleich Dampfschifffahrt und Eisenbahnbau den Handels- aber auch Personenverkehr intensivierten. Immer wieder formulierte Adrien Proust den Gedanken, dass die Epidemien internationale Quarantänemaßnahmen verlangen, weil sie auf nationale Grenzen keine Rücksicht nehmen. Wenn er von "indischer Cholera" sprach, dann war darin die Cholera als auf Land- und Seewegen aus Asien importierte Krankheit vorausgesetzt. Mit nicht geringerem Misstrauen als auf die britischen Handelsschiffe als potenzielle Importeure blickte er auf die indischen Muslime, die alljährlich auf ihrer Pilgerreise nach Mekka der Risikozone Ägypten nahe kamen.

Adrien Proust ist Teil eines Lehrstücks über die Verflechtung der Gesundheitspolitik mit den ökonomischen und Kolonialinteressen der beteiligten europäischen Nationalstaaten. Ägypten und der Suezkanal waren auch deshalb Schauplatz ihrer Rivalität, weil es der Zugang zu Afrika war. "International" hießen die Konferenzen, europäisch waren sie im Kern, eurozentrisch war ihre Perspektive, die medizinischen Expeditionen in die Cholera-Gebiete Ägyptens und Indiens waren in koloniale Infrastrukturen eingebettet. In die Fundamente der Gesundheitskonferenzen war die Rivalität zwischen Handelsinteressen und Präventionsmaßnahmen eingelassen, und die Wissenschaft war keineswegs der Deus ex Machina, der die Interessenkonflikte schlichtete. Sie durfte nur eine Nebenrolle spielen, weil die Gründe für die Entstehung und Verbreitung der Cholera strittig waren.

Wovon Adrien Proust überzeugt war, war strittig: dass Cholera eine von Mensch zu Mensch übertragene Krankheit war. Lange hielt sich die Theorie, sie resultiere aus Miasmen, Ausdünstungen des Bodens. Ehe die Bakteriologie zur neuen Schlüsseldisziplin avancierte, standen den Anhängern der "Ansteckungstheorie" über Jahrzehnte die Vertreter der Miasmenlehre gegenüber.

Auf der internationalen Gesundheitskonferenz in Rom 1885, an der Adrien Proust und Robert Koch teilnahmen, kam der kurz zuvor entdeckte Kommabazillus in den Verhandlungen nicht vor. Die Wissenschaft war Teil der Rivalität zwischen den Nationen, nicht das universelle Prinzip, das die Konflikte überwölbte. Es war kein Zufall, dass Prousts Landmann Louis Pasteur und der Deutsche Robert Koch in Ägypten und Indien, also in von England kontrollierten Weltregionen, zu Pionieren der Bakteriologie wurden, nicht aber englische Mediziner. Die englische Regierung hatte darauf verzichtet, Wissenschaftler in die Cholera-Regionen in Ägypten und Indien zu entsenden. Der hartnäckige Widerstand der Briten gegen alle Einschränkungen des Handelsverkehrs durch Quarantänemaßnahmen war mit einem ebenso hartnäckigen Festhalten an der Theorie vom lokalen, durch mangelnde Hygiene beförderten Ursprung von Cholera-Epidemien verknüpft.

Die Schriften des Orientreisenden leisten einen Beitrag zur Globalisierung der Seuchenpolitik im Zeitalter des Imperialismus

In Deutschland wurde Robert Koch nach seiner Rückkehr aus Indien triumphal empfangen, aber weder national noch international fand seine Entdeckung des Kommabazillus schlagartig breite Zustimmung. Erst als Adrien Proust und Robert Koch auf der Konferenz in Dresden 1893 erneut aufeinandertrafen, war der Kommabazillus als Cholera-Erreger allgemein anerkannt.

Die internationalen Gesundheitskonferenzen des 19. Jahrhunderts führten kaum je zu verbindlichen Abschlusskommuniqués, aber zur Herausbildung einer Infrastruktur internationaler Seuchenprävention. Seit einiger Zeit werden sie als Vorläufer der 1948 gegründeten Weltgesundheitskonferenz erforscht. Als die erste Gesundheitskonferenz 1851 in Paris eröffnet wurde, wurde in London die erste Weltausstellung zur internationalen Attraktion.

Es wäre reizvoll, im Blick auf diese Komplementärereignisse der Globalisierung die Beziehung zwischen Marcel Proust und seinem Vater dem Horizont der Familiengeschichte zu entführen und im kontrastiven Blick auf ihre Werke zu erzählen. Der Romanzyklus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" erschiene so als literarisches Laboratorium, in dem die von den Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts verbreiteten technischen Errungenschaften, Moden und Alltagsgegenstände in den europäischen Gesellschaftsroman und sein Metaphernarsenal eingeschmolzen wurden. Die Schriften des Orientreisenden Adrien Proust und seine Tätigkeit auf den internationalen Gesundheitskonferenzen erschienen als Beitrag zur Globalisierung der Seuchenpolitik im Zeitalter des Imperialismus und der rivalisierenden Nationalstaaten.

Doktor Cottard und seine Kollegen im Romanzyklus beschränken sich auf Privatpraxis, Klinik und Universität, sie werden aus der Salonperspektive ins Auge gefasst. Adrien Proust agierte über seine Tätigkeit im Hôtel de Dieu und als privater Arzt auf dem Parkett der internationalen Konferenzen, als Repräsentant der französischen Hygienepolitik. Er starb im November 1903, während der 11. Internationalen Gesundheitskonferenz in Paris, deren Abschluss er nicht mehr erlebte. Marcel Proust widmete ihm im Folgejahr seine Übersetzung von John Ruskins "Bibel von Amiens". Ein Jahrzehnt nach Adrien Prousts Tod erschien der erste Band der "Suche nach der verlorenen Zeit". Vielleicht kommt er darin doch vor, vielleicht steckt im Umstand, dass der Erzähler der Sohn eines hochrangigen Diplomaten ist, eine versteckte Hommage Marcel Prousts an seinen Vater.

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SZ vom 23.05.2020
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