Süddeutsche Zeitung

Literatur und Politik:Ich mach mir die Pippi widdewidde wie sie mir gefällt

  • In einer Umfrage haben die Vorsitzenden aller acht schwedischen Parteien angegeben, dass Pippi Langstrumpf das für sie wichtigste kulturelle Idol sei.
  • Der Vorsitzende der radikal nationalistischen "Schwedendemokraten" nannte in seiner Begründung die "Unkonventionalität" der Figur - zunächst einmal ein sozialdemokratisches Ideal.
  • Gut möglich, dass rechte Nationalisten Pippi ganz anders interpretieren als Grüne oder Sozialdemokraten.

Von Thomas Steinfeld

Dieser Sommer ist lang und heiß in Schweden, länger und heißer, als je ein Sommer war, jedenfalls soweit sich die Menschen erinnern können. Doch auch dieser Sommer wird nicht ewig währen: Am 9. September wird ein neuer Reichstag gewählt werden, und es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Sozialdemokraten, die gegenwärtig zusammen mit Miljöpartiet, den schwedischen Grünen, die Regierung stellen, im Amt bleiben werden. Alles andere erscheint denkbar, auch, dass die radikalen Nationalisten, in diesem Land "Schwedendemokraten" genannt, aus der Wahl als stärkste Partei hervorgehen. Weil aber Sommer ist, gelten die Debatten auch kulturellen Gegenständen, zum Beispiel in Gestalt einer Umfrage zu kulturellen Vorlieben, die Dagens Nyheter, die größte Tageszeitung des Landes, unter den Anführern der acht im Reichstag vertretenen Parteien veranstaltete.

Es verwundert vielleicht nicht, dass keiner der Parteivorsitzenden ein engeres Verhältnis zur klassischen Musik oder zur bildenden Kunst unterhält. Die Mehrheit zieht Abba vor. Aber es ist doch, wenigstens für Außenstehende, einigermaßen erstaunlich, mit welcher Inbrunst die Linken wie die Rechten, die Liberalen wie die Grünen zur selben Lichtgestalt emporsehen: zu Pippi Langstrumpf. Annie Lööf, die Vorsitzende der Zentrumspartei, erklärte, sie habe rote Haare und sei besonders willensstark, weswegen sie sich schon als Kind zu Pippi Langstrumpf hingezogen gefühlt habe. Der Liberale Jan Björklund bekannte sich zu Pippi Langstrumpf, weil diese "selbständig" sei und "ihren eigenen Weg" gehe. Und Isabella Lövin, die Sprecherin der Miljöparti, verkündete: "Pippi ist stark, frei und selbständig. Ich glaube, dass sie, mehr als man glaubt, zur Gleichstellung der Frau in Schweden beigetragen hat." Jimmie Åkesson, der Führer der Schwedendemokraten, war in etwa derselben Ansicht, minus Emanzipation: "Sie ist unkonventionell, stark und geht ihren eigenen Weg." Unterdessen besuchte Stefan Löfven, der Ministerpräsident, den Astrid Lindgren gewidmeten Themenpark in Småland und ließ sich mit einer Schauspielerin im Pippi-Kostüm fotografieren.

Der Anführer der rechten Schwedendemokraten lobte, Pippi gehe "ihren eigenen Weg"

Nun ließe sich fragen, wie unkonventionell eine Gestalt sein kann, der offenbar eine totale Konvention der Zustimmung gilt. Aber das wäre ein billiger Triumph über ein Bekenntnis, das Politiker ja auch ablegen, weil sie sich damit beim Volk beliebt machen wollen. Interessanter ist es, darüber nachzudenken, was hier mit "unkonventionell" gemeint sein kann - und das ist, allen Differenzen zwischen den politischen Lagern zum Trotz, zunächst ein sozialdemokratisches Ideal.

Pippi Langstrumpf steht für die Erneuerung der Gesellschaft mit friedlichen Mitteln, gewaltfrei und im Grunde immer freundlich. Zwar ist sie frech, haut den Piraten auf die Mütze und landet gelegentlich mit dem Gesicht in der Torte, doch stoßen ihre kleinen Zumutungen nicht auf substantiellen Widerstand, und am Ende geht sie doch als Siegerin davon, zumal ein Kind sowieso immer recht hat.

So bekehrt sie auch ihre Freunde Annika und Tommy, zwei brave Kinder, die sie aus ihrem vermutlich kleinbürgerlichen Milieu reißt und in den fröhlichen, harmlosen Aufstand führt, der seine geografische und soziale Mitte in der Villa Kunterbunt hat. Offenbar scheint die Sozialdemokratie so tief in der schwedischen Gesellschaft verwurzelt zu sein, dass man zu ihrer Durchsetzung nicht einmal mehr eine sozialdemokratische Partei braucht. Zur Not übernehmen auch radikale Nationalisten das Geschäft.

Aber ist es nicht seltsam, wenn sich lauter Politiker mittleren Alters zu Pippi Langstrumpf bekennen, da diese Figur als Idol für Kinder doch abgelöst wurde durch Gestalten von anderer, dunklerer Art, durch Frodo aus dem "Herrn der Ringe" zum Beispiel oder, mehr noch, durch Harry Potter? Und bilden nicht Pippi Langstrumpf und Harry Potter ein antagonistisches Paar?

Funktionale Waisenkinder sind sie beide, auch wenn Pippi Langstrumpf einen Vater hat, der auf einer Insel in der Südsee lebt und über die Eingeborenen präsidiert. Aber während für Pippi Langstrumpf die Abwesenheit der Eltern - und mit ihnen: aller Autoritäten - die Bedingung und der Auftakt einer unvergleichlichen Freiheit ist, erscheint diese Abwesenheit bei Harry Potter als durch und durch traumatische Erfahrung, durch die das Kind alle Freiheit verliert. Wo Pippi Langstrumpf als glückliche Gestalt durch ihre kleine Welt hüpft, muss sich Harry Potter als tragisches, heimgesuchtes Wesen hindurchkämpfen. An ihm wird ein Schicksal exekutiert, gegen das selbst die Schule - im Übrigen eine Autorität, der ein hohes Maß an Sehnsucht und Identifikation gilt - nur bedingt etwas ausrichten kann. Daher wird es zwar so sein, dass Frodo und Harry Potter, Agenten einer universalen Hoffnungslosigkeit, ungleich zeitgemäßere Idole sind, als es eine scheinbar erbarmungslos optimistische Nervensäge wie Pippi Langstrumpf sein kann. Als Idole für Politiker taugen Frodo und Harry Potter hingegen wenig, müssen Politiker den Aufbruch selbst dann propagieren, wenn schon lange keiner mehr an "Fortschritt" glaubt.

Sie gleicht ihren Cousins aus der Welt der Finsternis, Frodo und Harry Potter

Vielleicht macht der Beruf des Politikers aber auch blind, zumindest Pippi Langstrumpf gegenüber. Denn eigentlich ist auch Pippi Langstrumpf eine tragische Gestalt. Die unendliche Freiheit, die sie genießt, hat einen Preis von der Qualität eines Teufelspakts oder eines Fluchs, auch wenn dieser Preis als lustige Zauberpille mit dem Namen "Krummelus" daherkommt. Dieses Medikament verhindert das Erwachsenwerden. Pippi Langstrumpf kann nur deshalb "stark, frei und selbständig" sein, weil sie eingeschlossen ist in einen ewigen heißen Sommer, festgehalten in einem Augenblick ihrer Geschichte, ohne Zukunft und, streng genommen, auch ohne Vergangenheit. Pippi Langstrumpf ist ihren Cousins aus der Welt der Finsternis, also Frodo und Harry Potter, weitaus näher, als es die Rezeption glauben lässt.

Das gilt vor allem für die Rezeption unter Politikern, wobei deren Bekenntnis zu einer Freiheitsheldin namens Pippi Langstrumpf etwas unangenehm Zynisches an sich hat. Denn sind nicht sie, also die Politiker, formell verantwortlich für die erstarrte Welt, gegen die sich ein Kinderaufstand richten müsste? Was ist das für ein infamer Gedanke: sich zu einer kindlichen Revolte der Fantasie gegen eine Gesellschaft zu bekennen, die man selbst so eingerichtet hat, wie sie ist?

Doch halt! Möglicherweise muss man, zumindest bei den Schwedendemokraten, vielleicht auch bei den anderen Parteien, den Gedanken an eine "Revolte" im eigentlichen Wortsinn verstehen, nämlich als Bezeichnung für eine Bewegung rückwärts (von lateinisch "revolvere": "zurückwälzen"). Pippi Langstrumpf, versichert Åkesson, sei "unkonventionell, stark" und gehe "ihren eigenen Weg", und es mag sein, dass sie, seinem Verständnis zufolge, keineswegs zu universaler Vernunft und Freiheit hin unterwegs ist, sondern umgekehrt: zu der rückwärtsgewandten Utopie, die das fantastische Glücksversprechen aller sogenannten Rechtspopulisten darstellt - in eine Welt, die eigentlich ein Dorf ist, in dem sich alle Menschen kennen und alle von gleicher Art und Hautfarbe sind.

In eine Welt auch, in der das Wort "unkonventionell" bedeutet, sich von einem angeblich herrschenden linksliberalen Konsens nichts sagen zu lassen, in der das Wort "stark" heißt, sich bei der Ausweisung von Fremden keinen juristischen Zwang antun zu lassen, und in der die Rede vom "eigenen Weg" den Abschied aus der Europäischen Union ankündigt - und das alles anhand einer Gestalt mit abstehenden roten Zöpfen und hängenden Strümpfen, an deren originär schwedischem Charakter kein Zweifel bestehen kann. Fantasie ist nicht unbedingt etwas Gutes. Nicht einmal in Kinderbüchern.

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Quelle:
SZ vom 31.07.2018/khil
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