Literatur und Kindheit:Gebt ihm den Nobelpreis!

Warum es mein Glück war, Stephen King erst als Erwachsener entdeckt zu haben.

Von Thomas von Steinaecker

In meiner Kindheit erschien mir alles maximal. Maximal schön die Freundschaft mit einem sonderbaren Jungen aus der Neubausiedlung, maximal intensiv die Sommer im Wald. Maximal auch die Ängste, Angst vor der Dunkelheit, vor den Lehrern, vor radioaktiven Wolken aus dem Osten.

Als ich eines Tages am Dorfkino vorbeikam, wurden meine Ängste um eine Nuance erweitert. Das Plakat zeigte einen Friedhof, durch den eine Katze strich, darüber aufgerissene Augen: "Stephen King's Friedhof der Kuscheltiere". Irgendetwas Ungutes, Verbotenes ging davon aus.

Wenig später zogen wir in die Nähe von München, und auch dort blitzte sein Name auf. Er stand auf in Schultaschen versteckten Büchern, deren blutrünstigen Inhalt man sich ehrfürchtig zuflüsterte. Es schien niemand zu geben, der King nicht las. Es war wie eine Epidemie. Die langhaarigen Nichtleser in ihren "Paradise Lost"-T-Shirts genauso wie der Oberchecker, der sonst von Hermann Hesse schwärmte, bis hin zu den Mädchen. Kann gut sein, dass ich der Einzige in meinem Jahrgang war, der sich von King maximal fernhielt. Ein Grund war: Dünkel.

Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, "Kindlers Literaturlexikon" von A bis Z zu lesen; weil ich das Schreiben entdeckt hatte und auf der Suche nach Vorbildern war. Ein Autor namens King, der für "diese Art von Schund" stand, wie meine Eltern Comics, Science-Fiction und das Übelste vom Üblen: Horror nannten, kam unter "K" jedenfalls nicht vor. Stattdessen verschlang ich Kafka. Abgesicherter Kanon, dazu eine sympathisch selbstaufopfernde Biografie, außerdem spannend und seltsam. Was die Grausamkeiten, etwa die Folterszenen von "In der Strafkolonie", erträglich und zugleich faszinierend machten, war sowohl die offensichtliche Surrealität der Handlung, die bei aller Drastik Distanz schuf, als auch die kunstvollen Relativsätze, in denen ich mich manchmal verhedderte, weil ich sie entweder nicht sofort verstand oder so schön fand.

Dass dann King auch noch die Frechheit besaß, Stanley Kubricks "Shining"-Verfilmung als misslungen zu bezeichnen, war nur eine Bestätigung seines schlechten Geschmacks. Wieder einmal stimmte also die Gleichung: Nur aus mediokren Büchern lassen sich wirklich gute Filme machen.

Mit dem Ende der Schule verschwand King aus meinem Sichtkreis, zur Jahrtausendwende studierte ich Germanistik, besuchte Kafka-Seminare und schrieb an meinem ersten Roman. Ab dem 11. September 2001 begann sich in meiner Wahrnehmung die Welt schlagartig zu wandeln. Der Horror der Gegenwart übertraf meine schlimmsten Kindheits-Albträume und ließ die 80er-Jahre zunehmend märchenhaft fern und idyllisch erscheinen.

Sein Horror ist selten Selbstzweck. In Wahrheit erzählen seine Werke zutiefst moralische Geschichten

Vor einem Jahr blieb ich in einem Buchgeschäft in der Abteilung "Spannung" beim Buchstaben "K" stehen. K wie King. Als Schriftsteller hatte ich mich in der Zwischenzeit verändert. Zunehmend interessierten mich Plots, die Realismus mit Fantastik verbanden, Charaktere statt Gedankenkonzepte entwickelten und dabei keine Scheu vor Genre-Elementen zeigten. Außerdem hatte ich noch eine Rechnung mit diesem Clown offen. Ich kaufte mir "Es".

Was machte den Roman zu einer der intensivsten Lektüren meines Lebens, zu einem regelrechten Pageturner von über 1 500 Seiten, bei dem ich nicht selten Tränen in den Augen hatte? Das Erstaunlichste war für mich zunächst, wie wenig es das enthielt, was ich von King eigentlich erwartet hatte: Horror.

Okay, es gibt einige Splatter-Szenen, einige davon sind ziemlicher Trash, einige in ihrer Schockwirkung sehr effektiv; was mich aber dessen ungeachtet sofort in den Bann zog, war, in welchen fast schon Proust'schen Dimensionen hier das Vergehen der Zeit beschrieben wird, anhand von sieben Außenseitern, dem "Klub der Verlierer", die als Erwachsene in den Achtzigerjahren jenen Kampf gegen den bösen Clown Pennywise wiederaufnehmen, den sie als Kinder begannen.

Doch "Es" ist viel mehr als eine Coming-of-Age-Geschichte, deren Horror für seine Protagonisten auch in der Erkenntnis liegt, dass Erwachsene nicht zwangsläufig vernünftigere oder gar bessere Menschen sind. Am Kleinstadtkosmos des fiktiven Derry wird die Geschichte der USA mit all ihren dunklen Seiten gespiegelt, deren Personifikation der buchstäblich im Untergrund, in der Kanalisation hausende Pennywise ist. Das macht "Es" zur "Great American Novel", einem klassischen amerikanischen Gesellschaftsroman.

Und spätestens hier begann meine Bewunderung für King, den Handwerker. Sieben sehr unterschiedliche Charaktere über einen Zeitraum von 30 Jahren mit präzise gesetzten Spannungsbögen zu entwickeln inklusive einiger ausgebuffter Erzähltricks, in denen der angebliche Unterhaltungsschriftsteller King im Stil der Postmoderne fiktive Dokumente einbaut, innere Monologfetzen den Erzähltext zerschneiden lässt und die beiden Handlungsstränge um den kindlichen und dann erwachsenen "Klub der Verlierer" parallel führt, indem der letzte Satz eines Kapitels in der Mitte abbricht, um in einem Zeitsprung am Beginn des nächsten zu Ende geführt zu werden: Das ist allergrößte Kunst.

Am Ende hatte also auch mich die King-Epidemie erfasst. Dass er selbst der Inbegriff des amerikanischen Traums ist, ohne Vater in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs, lange Zeit mit seiner Frau und seinen Kindern kaum Geld hatte und wie ein Besessener schrieb, über 70 Bücher seit 1974 - all das wäre nicht von Interesse, wenn sich nicht darunter regelmäßig Werke mit Figuren befänden, die sich sofort ins kollektive Gedächtnis einprägen. Etwa der Mann, der in einer Spielshow um sein Leben rennen muss in "Menschenjagd", das mordende Auto in "Christine" oder der Autor in "Sie", der in die Fänge seines größten Fans gerät und von ihr gezwungen wird, jene Serie fortzusetzen, die er hasst. Heute bin ich froh, erst als Erwachsener Stephen King entdeckt zu haben. Früher wären mir jene Aspekte seiner Bücher verborgen geblieben, die für mich seine eigentliche Qualität ausmachen. Denn Kings Horror ist nur selten Selbstzweck. In Wahrheit erzählen seine Werke zutiefst moralische Geschichten, die in stets neuen Versuchsanordnungen jene Fragen nach den letzten Dingen stellen, die uns in dem, was heute Belletristik heißt, eher selten begegnen und allein schon dadurch, dass es hier um Leben und Tod geht, eine unüberbietbare Dringlichkeit erhalten. Dazu entwickelt King seine philosophischen Themen ganz aus seinen Figuren und waghalsigen Plots heraus, sodass sie nie aufgesetzt wirken, etwa wie in "Green Mile", jenem unvergesslichen Roman über einen zu Unrecht zum Tode verurteilten schwarzen Jesus.

Gerade führt er einen Twitter-Feldzug gegen Trump mit Kürzest-Horror-Texten

Am Ende ist hinter all dem Schock-Feuerwerk, das King ohne Frage zuweilen abfackelt, eine tiefe Menschlichkeit und Sympathie für den "Klub der Verlierer" zu spüren, die Schwachen der Gesellschaft, Kinder, Frauen, Schwarze, Behinderte. Und weil er letztlich auch ein politischer Autor ist, steht die Brutalität, die ihnen widerfährt, oftmals in unterirdischer Verbindung mit den unverarbeiteten Albträumen Amerikas, von der Ermordung Kennedys über Vietnam bis zum 11. September und Trump.

Gegen Amerikas Präsidenten führt King momentan auf seiner Twitter-Seite - wie die Kinder gegen Pennywise - einen Feldzug mit unorthodoxen Mitteln: Er macht den Präsidenten einfach zum Protagonisten von Kürzest-Horror-Texten.

Längst wäre es an der Zeit, dem Clown-Bekämpfer, Dunklen-Turm-Bewohner, Kindheitssommer-Beschreiber, Ex-Alkoholiker, Schreibmaniac, Hobby-Gitarristen, Weltverzweifler und Moralisten mit Mordsspaß am Erschrecken nach dem Rocksänger Dylan den Literaturnobelpreis zu geben, auch als Signal dafür, dass Literatur so viel mehr ist als das, was im Kindler steht. Der meisterhafte Schriftsteller King hätte ihn maximal verdient.

Thomas von Steinaecker ist Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm der Roman "Die Verteidigung des Paradieses" (S. Fischer Verlag).

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: