Literatur und Journalismus:Der Berliner Luft

Illustrationen für die Literaturbeilage vom ET 9.10.2018

Automat zum Verteilen von Broschüren, 1973. Sobald sich jemand eine Broschüre nimmt, blinkt der Automat und spielt Sound.

Stimme der Kritik und sanfter Frontstadt-Flaneur, der im Jahr der Wiedervereinigung starb: Friedrich Luft in seinen gesammelten Feuilletons, Glossen und Berichten.

Von Jens Bisky

Ost-Berliner Theaterfreunde hatten, als die Mauer noch stand, ein Sonntagsritual, von dem sie ungern abwichen, weil sie Bescheid wissen wollten, was in den Kinos und Theatern der gesamten Stadt lief. Erst hörten sie "Atelier und Bühne" des Berliner Rundfunks, wechselten dann rasch zum Sender Freies Berlin, zur "Galerie des Theaters", und schalteten dann erwartungsvoll zum RIAS, zur "Stimme der Kritik". Da sprach ein Mann, der sich auskannte, ohne Pausen und Getue, in hohem Tempo, fünfzehn Minuten lang ausplauderte, was er zu sagen hatte, und sich an jedem Sonntag mit der Formel "gleiche Stelle, gleiche Welle" verabschiedete. Dann ertönten Freiheitsglocke und Freiheitsschwur. Der Theaterkritiker Friedrich Luft gehörte zu West-Berlin wie Gedächtniskirche, Abendschau, Currywurst.

"Und dann zieht er die Stirne in Falten, als wär's ein Stück von ihm. Als sei es seine Verantwortung mit."

Im Februar 1946 hatte er sich seinen Hörern vorgestellt: "Luft ist mein Name. Friedrich Luft. Ich bin 1,86 groß, dunkelblond, wiege 122 Pfund, habe Deutsch, Englisch, Geschichte und Kunst studiert, bin geboren im Jahre 1911, bin theaterbesessen und kinofreudig und beziehe die Lebensmittel der Stufe II. Zu allem trage ich neben dem letzten Anzug, den ich aus dem Krieg gerettet habe, eine Hornbrille auf der Nase. Wozu bin ich da? - Ich soll mich für Sie plagen."

Und indem er sich plagte, unterhielt er seine Hörer: aufgeschlossen für Neues, aber genervt von Posen und Forciertheiten, lieber spottend als aggressiv, nicht belehrend. Er erzählte, was er gesehen und erlebt hatte, war als Person immer kenntlich. Die Stimme der Kritik meldete sich Woche für Woche, bis Ende Oktober 1990. Am ersten Weihnachtsabend der wieder vereinten Stadt starb Friedrich Luft.

Sein Nachlass kam ins Archiv der Akademie der Künste, fast neun laufende Meter. Dort hat aus den Hunderten Zeitungstexten, Berichten, Glossen, Feuilletons, der Döblin-Biograf Wilfried F. Schöller einige herausgesucht. Luft war ab 1936 immer auch Zeitungsmann, erst freier Autor etwa für das vormals liberale Flaggschiff der Hauptstadtpresse, das Berliner Tageblatt, dann, gleich nach dem Krieg, von den Amerikanern als Kritiker und Feuilletonchef für ihre "Neuen Zeitung" gewonnen, die bis 1955 erschien. Er schrieb für viele, für die Welt ebenso wie für die Berliner Morgenpost oder das AOK-Gesundheitsblatt, auch für den Monat und die SZ. Sein erster Feuilleton-Band - "Luftballons" - erschien 1939. Da ging es um die Eisenbahn als poetischen Ort oder einen Mann beim Kofferpacken. Als Autor und Regisseur für Lehrfilme überstand er den Krieg in der Heeresbildstelle.

Am 10. Mai 1946 druckte die Neue Zeitung Lufts Rückblick: "Berlin vor einem Jahr", eine Erinnerung an das Inferno der letzten Kriegstage. "Die Welt war der eigene Keller, falls der noch hielt. Ohne Licht war diese Welt oder doch nur erleuchtet von den Resten einiger Kerzen. Das Wasser war versiegt. (...) Lugte man hinaus, sah man einen hilflosen deutschen Tank sich durch die Glut der Häuserzeilen schieben, halten, schießen, beidrehen."

Aus kleinen Szenen entfaltete der Feuilletonist ein Panorama des Irrsinns. Die großen Worte, die Parolen waren ihm zuwider. Der "größte Feldherr aller Zeiten" beherrschte höchstens noch ein paar Straßen in der Mitte, sah nicht weiter als vom Bunker der Reichskanzlei bis in den Tiergarten. Dass er sein "kindisches Autodafé" vorbereitete, wussten die Städtebewohner nicht. Es gab Gerüchte, keine Zeitungen. Die eine, die noch erschien, der "Panzerbär", versicherte, dass sich in Berlin das Schicksal wenden würde. Ein Generalmajor halte tapfer eine U-Bahn-Station. Friedrich Luft erinnerte auch das und erzählte knapp, mit dem Pathos der Sachlichkeit, vom Mann, der aus dem Gefängnis entkommen war und zusammenbrach. Am Tag zuvor hatten Trümmer seine Frau zerquetscht. Er berichtete vom Blockwart, der sich aus dem Fenster stürzte, von den Häschern der SS, die bis zuletzt jene jagte und mordeten, die nicht weiterkämpfen wollten. Mit Angst endete der Rückblick: "Sie ,kämmten noch durch', nach dem Gesetz, nach dem sie angetreten. Wir pressten uns neben die Tür."

Das waren die Erfahrungen, aus denen heraus Friedrich Luft schrieb, die speisten, was er für eine Eigenschaft der Berliner Luft hielt: "trockene Unbedingtheit und kräftige Skepsis". Manche seiner Texte sind von provozierender Harmlosigkeit, richten sich im Beiläufigen, im Betulichen ein. Es ist ein Verdienst dieser Auswahl, dass sie schlagartig klar macht, warum dies so sein musste und warum es gut war. Seit den Krisenjahren um 1930 - Luft war einundzwanzig, als der Reichstag brannte - hatte die Stadt das Harmlose, samt Vertrauen, Zugewandtheit und Offenheit verloren. Es wieder und wieder zu entdecken, gegen Fanatismus und Schlagwortseligkeit zu verteidigen, war eine zivilisatorische Aufgabe. Er hätte das kaum so hochtönend formuliert, er wählte das Pseudonym "Urbanus" und sagte damit, worauf es ankam. Seine Urbanität hatte nichts mit jener Gleichgültigkeit zu tun, die gern mit Liberalität verwechselt wird.

Einer seiner Bekannten war ein alter Berliner, aus der Emigration zurückgekehrt. Der ging allabendlich und schaute nach den Fortschritten des Aufbaus: "Trifft man ihn, sagt er besorgt: ,Schön - der Hochbau am Innsbrucker ist ja nun fertig. Aber wissen Sie, am Südwestkorso draußen - verfolgen Sie das? - da geht's doch reichlich langsam.' Und dann zieht er die Stirne in Falten, als wär's ein Stück von ihm. Als sei es seine Verantwortung mit." In den letzten Tagen der Blockade flog Friedrich Luft auf Einladung des State Departement mit Kollegen für zwei Monate in die USA. Er prüfte dort wie daheim seine Begriffe, war begeistert, als ein junger Mann ihm sagte, es sei gut gewesen, mit Roosevelt zu leben, "mit", nicht "unter". Er fand keinen Anlass, "die alte europäische Augenbraue zu heben". Er traf das alte, das vertriebene Berlin: Kurt Weill am Broadway, den Theaterkritiker Kurt Pinthus, den Romancier Wilhelm Speyer. Was die Amerika-Begeisterung bedeutete, mit wie viel Lust am demokratischen Aufbruch sie verbunden war, lässt sich in seinen Reiseberichten nachlesen.

Viele Glossen, Heiteres enthält der Band. Ein Kabinettstück ist der "Nachruf auf einen perfekten Zuschauer", auf einen "Premierentiger", der Wilhelm Richter hieß und nie hervortrat. Die Neugier auf die Unbekannten, Namenlosen nimmt besonders für diesen Feuilletonisten ein, der sich Herablassung verkniffen hat. Er war kein "kalter Krieger" und kannte auch die Ost-Berliner Bühnen genau. Da er die Perspektive der "kleinen Leute" einnahm, sich das tägliche Erleben nicht wegerklären ließ, fand er jedoch deutliche Worte.

"Hier geht Kafka" hieß 1980 sein Bericht über den "Grenzübergang Friedrichstraße" - ein eindrucksvolles Dokument aus dem Alltag der Teilung, genau beobachtet, schnörkellos aufgeschrieben: "Sozialismus bedeutet Anstehen." Aber er wollte keine Deklamationen, keine bestallten Redner, Gedenktage, keinen "peinlichen Lärm", besser Schweigen und Wachsamkeit - und viele Stimmen der Kritik.

Friedrich Luft: Über die Berliner Luft. Feuilletons. Versammelt und mit einem Nachwort von Wilfried F. Schoeller. Die Andere Bibliothek, Berlin 2018. 432 Seiten, 42 Euro.

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