Literatur und Internet:Performance am Limit

Literatur und Internet: Joshua Groß, Johannes Hertwig, Andy Kassier (Hrsg.): Mindstate Malibu. Kritik ist auch nur eine Form von Eskapismus. Starfruit Publications, Nürnberg 2018. 320 Seiten, 25 Euro.

Joshua Groß, Johannes Hertwig, Andy Kassier (Hrsg.): Mindstate Malibu. Kritik ist auch nur eine Form von Eskapismus. Starfruit Publications, Nürnberg 2018. 320 Seiten, 25 Euro.

Wie kann man Kritik üben, wenn es nichts Kommerzielleres gibt als eine "klare Haltung"? Die Anthologie "Mindstate Malibu" ist der bislang beste Beitrag zum Zentraldilemma des digitalen Daseins.

Von Felix Stephan

In unregelmäßigen Abständen erscheinen in Deutschland Anthologien, in denen auf wenigen Seiten eine ganze Gegenwart zusammenfindet. Kurt Pinthus' Anthologie "Menschheitsdämmerung" aus dem Jahr 1919 war so ein Fall, Rolf Dieter Brinkmanns "Acid" aus dem Jahr 1975 auch, zuletzt der Gesprächsband "Tristesse Royale" aus dem Jahr 1999. Und in diesem Jahr deutet vieles darauf hin, dass es sich mit dem Kompendium "Mindstate Malibu" ähnlich verhält. Der Band versammelt 21 Beiträge, von denen die Hälfte aussieht, als sei sie direkt aus dem Internet gefallen, und er trägt den Untertitel "Kritik ist auch nur eine Form von Eskapismus".

An diesem schmalen Statement zeigt sich die Vorgehensweise schon ganz gut: Einerseits gibt es eine Neigung zur permanenten Theoretisierung und Kontextualisierung des eigenen Tuns. Und zum anderen die Neigung, die vorweggenommenen Reaktionen auf die eigene Arbeit auch gleich selbst zu ironisieren und auf diese Weise eine Redeweise herzustellen, die ständig zwischen den Formatschablonen unterwegs ist: zwischen Ernst und Unernst, Intuition und Analyse, Affirmation und Kritik. Es handelt sich um ein Sprachspiel, das im Zweifel nie ein Ende findet und das man immer und immer weiter treiben kann, bis irgendwann vielleicht doch wieder so etwas wie ein Moment der Verbindlichkeit und des Einverständnisses entsteht.

Es ist ein Sprachspiel, das man im Zweifel bis in alle Ewigkeit spielen kann

Ein gutes Beispiel für dieses widerständige Flimmern ist der Text der Autorin Charlotte Krafft. Vor zwei Jahren hat sie in der Zeitschrift Das Wetter einen Essay über den selbsterfundenen Begriff "Hyperironie" veröffentlicht, der einige kritische Gegenessays nach sich gezogen hat. In "Mindstate Malibu" antwortet sie ihren Kritikern nun in schön sinnlos-akkuratem Bachelorarbeit-Deutsch, wägt säuberlich Ironie-Konzepte aus verschiedenen Epochen gegeneinander ab, führt ihren eigenen Text als Beleg für eine These an, die er selbst überhaupt erst aufgestellt hat, und dreht auf diese Weise ihre Runden durch das Dickicht der Begriffskritik, bis es zur Überhitzung kommt, der Apparat implodiert und sich schließlich eine gewisse Entspannung einstellt. Erst dort, jenseits der Hermeneutik, wird dann so etwas wie Sinn erkennbar: "Es ist wie der schwimmende Punkt im Auge, den man nicht fixieren kann, den man nur schaut, solange der Blick locker und unangestrengt schweift."

Ein gutes Beispiel ist aber auch das Kapitel von Ronja Zschoche, die vor Kurzem als leicht überzeichnete Autotune-Rapperin "Haiyti" durch den Bereich gesegelt ist, an dem sich in Deutschland Hoch- und Clubkultur überlagern: Es trägt den Titel "Gamechanger" und besteht ausschließlich aus selbstgemalten Cocktails. Die "Gamechanger" sind die Drinks, aber natürlich ist mit dem Titel aber auch der popgeschichtliche Moment gemeint, den diese Anthologie markiert.

Wobei man das Buch andererseits auch als Fazit auffassen könnte, als Rückschau auf ein popkulturelles Jahrzehnt, das sich derzeit schon wieder dem Ende zuneigt. Als direkte Einflüsse spielen die Bühnenbilder von Susanne Kennedy eine Rolle, die Videos von Ed Atkins und die Installationen von Ryan Trecartin, alles Arbeiten, die es auch 2010 schon gab, als die meisten der hier versammelten Autoren noch nicht einmal studierten. Die Kalifornien-Umarmung, die Neon-Ästhetik der Achtzigerjahre - all das ist im Jahr 2018 eigentlich auch schon wieder ein bisschen over.

Darauf würde auch hindeuten, dass die Poetik, die sich hier verdichtet, an verschiedenen Ecken des deutschsprachigen Internets schon seit einiger Zeit zu beobachten ist und es schon lange den Verdacht gab, dass sich hier etwas zusammenbraut, dass all diese ambitionierten Tweets, Instagram-Accounts, Kunstkritiken, Literaturmagazine und Videoclips eine Gegenwartsdiagnose teilen. Sämtlichen Arbeiten geht die Beobachtung voraus, dass es im Datenkapitalismus nichts Kommerzielleres gibt als "Gesellschaftskritik" und eine "klare Haltung" und man mit diesen Instrumenten an den Verhältnissen folglich genau gar nichts ändert. Weil sie aber trotzdem gern das ein oder andere anmerken würde, bedient sich diese Anthologie des wichtigsten Verkaufsarguments der Gegenwart, der Authentizität, und bietet eine "Kritik zum Fühlen" an.

Eine andere Wahl, als sich dem Wettbewerb der Identifikationsangebote und Reichweiten zu stellen, hat die Kulturkritik vielleicht auch gar nicht, wenn sie über ihre ohnehin einverstandenen Milieus hinaus verstanden und adaptierbar sein will. "Je perfekter die Kritik mit ihrem Gegenstand verschmilzt, desto erfolgreicher funktioniert sie jenseits ihrer eigenen Grenzen", heißt es etwa bei Johannes Hertwig. Deshalb: "Performance am Limit, alles andere ist maximal Poetry Slam."

Ein halbes Jahrhundert Gesellschaftskritik hat alles nur noch schlimmer gemacht

Dass das Grundproblem des freundlich vereinnahmenden Kapitalismus nicht ganz neu ist und der Begriff der "repressiven Toleranz" schon von Herbert Marcuse stammt, macht die Sache nicht unbedingt einfacher, im Gegenteil. Es verschärft die Lage eher, schließlich kommt man heute um die Beobachtung endgültig nicht mehr herum, dass ein halbes Jahrhundert Kritik alles nur noch schlimmer gemacht hat und den Gegner nur noch resilienter. Wenn aber eh alles egal ist, öffnen sich eben immer auch Räume. Das eingeübte kritische Vokabular ist offensichtlich nutzlos geworden, deshalb ist es Zeit für neue Wörter. "Mindstate Malibu" räumt deshalb einer Gruppe von Künstlern einigen Platz ein, die auf Twitter eine eigene Sprache entwickelt hat, die sich leicht legasthenisch am Duktus der Berateragenturen entlang bewegt, eine Art Argot des Turbokapitalismus. Das klingt ungefähr so: "Twitter insgesamt schwierig gerade überall festgefahrene Patterns ich grinde Amazon Rezensionsbereich für Original Content". Einer der Erfinder dieser Sprache trägt das Pseudonym "Kurt Prödel", und spätestens als Clemens Setz in einem Interview kürzlich Prödel als seinen derzeit wichtigsten sprachlichen Einfluss anführte, war nicht mehr von der Hand zu weisen, dass es sich dabei um Literatur handelt.

Natürlich ist das alles ein bisschen gymnasial, und natürlich ist es die Sprache von Leuten, deren Existenz und Lebensweise von der Gesellschaft nicht unmittelbar bedroht werden. Diese Leute gibt es ja auch noch, auch wenn sie zuletzt ein wenig aus dem Fokus geraten sind. Auffällig ist es jedenfalls schon, dass in der Anthologie so viele Autoren versammelt sind, die als Wohnorte Braunschweig, Nürnberg oder Kerpen angeben. Und auffällig ist auch, dass diese Autoren ihren Zweitwohnsitz allesamt auf Twitter, Instagram und Youtube haben, was wahrscheinlich einer der Gründe dafür ist, dass die Konzentration der Kreativen in den Metropolen heute nicht mehr unumgänglich ist.

Es könnte jedenfalls etwas dran sein an dem Verdacht, dass die Grundbedingungen für freies Denken - eine gewisse Ungestörtheit, freie Zeit und Liberalismus - in den Kleinstädten derzeit leichter zu haben sind als zum Beispiel in Berlin, wo rund um die Uhr ein ideologisch ausufernder Klassenkampf um jeden Quadratmeter im Gange ist. Vielleicht kann man sich mit einer gewissen Distanz unbelasteter mit Fragen beschäftigen, für die die Metropolen gerade keine Zeit haben. Wie man zum Beispiel damit umgehen soll, dass im Internet alles längst abgeschafft ist, was in unseren Republiken einst den Menschen, den Bürger, die Öffentlichkeit ausgemacht hat. Und dass diese digital-autoritäre Revolution mit dem Umstand einhergeht, dass es Deutschland blendend geht, dass es sich hier besser lebt als je zuvor. Und wie man eine relevante Kunst herstellen soll, wenn man zufällig in den Nullerjahren in Deutschland aufgewachsen ist und damit den globalen Kapitalismus zwangsläufig von der Gewinnerseite aus betrachtet.

Auf der symbolischen Ebene erscheint es merkwürdig schlüssig, dass das Buch von Fernsehbildern des brennenden Malibu flankiert wird. Für den Geist der Popkultur ist diese Katastrophe vielleicht so etwas wie das Erdbeben von Lissabon für die Aufklärung: der dramatische Kollaps einer Utopie. Wobei selbst das Schicksal heute als Alliierter ausfällt, die Katastrophe ist menschengemacht.

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