Süddeutsche Zeitung

Literatur:Summen in der Zwischenzone

Der Ukrainer Andrej Kurkow liest aus seinem Roman "Graue Bienen" über zwei Frührentner in einem menschenleeren Kriegsgebiet

Von Christian Jooß-Bernau

Bis zum Rand seines Gemüsegartens fühlt er sich sicher. Draußen auf dem Feld, da liegt ein toter Soldat mit einem goldenen Ring im Ohr. Sergej Sergejitsch weiß das so genau, weil er sich eines Morgens mit dem Mut eines schweren Katers doch zu ihm gewagt und etwas Schnee über ihn gehäuft hat. Sonst aber hat er es recht behaglich in seinem Häuschen in Malaja Starogradowka zwischen Slowjansk und Horliwka - nahe Donezk. Er hat zwei Kisten mit Kerzen aus Bienwachs, es gibt Nudeln mit Ei, dann und wann fliegt ein Geschoss über sein Dach - und im Schuppen steht das Wichtigste: seine Bienenstöcke, deren warmes Summen ihm auch im tiefen Winter zeigt, dass da Leben ist. In der zweiten Straße des Dorfes wohnt nur noch Paschka Chmelenko, sein "Kindheitsfeind" von der ersten Klasse an, von dem er mittlerweile doch sagen kann: "Sie waren jetzt in mancher Hinsicht Brüder, wenn auch, Gott sei Dank, keine echten!"

Zwei Frührentner in der grauen Zone zwischen den Kriegsparteien, der ukrainischen Armee und den Separatisten, das ist der Ausgangspunkt von Andrej Kurkows in der deutschen Übersetzung von Johanna Marx und Sabine Grebing bei Diogenes erschienenem Roman "Graue Bienen". Die beiden Männer sind allein und doch fast zufrieden. Das Gefühl ist ähnlich wie das, was Roland Barthes in seinen "Mythen des Alltags" für Jules Vernes Romane beschreibt, wo die meisten Schiffe "Thema einer beglückenden Einschließung" sind, man aus der Wohligkeit und Abgeschlossenheit der Nautilus beispielsweise auf wilde Unterwasserwelten blickt. Fast den halben Roman nimmt sich Kurkow Zeit, um eine Welt zu gestalten, die von ihren Bewohnern Tag für Tag verlangt, eine Struktur der Alltäglichkeit gegen das Draußen zu erhalten. Sie essen, sie heizen, sie tauschen, einfach so, die Schilder der beiden Straßen aus. Aus der Lenin- wird die Schewtschenkostraße und umgekehrt. So wohnt Paschka, der sich bei den Separatisten eindeckt, jetzt richtig und Sergej, den dann und wann ein ukrainischer Soldat besucht, ist mit dem Nationaldichter auch glücklicher.

Der 58-jährige russischsprachige Ukrainer Kurkow hat die Verwerfungen Osteuropas als Autor mit Romanen begleitet, die durchlässig für surreale Stimmungen sind. In den "Grauen Bienen" ist es der inoffizielle Krieg selber, der für verschobene Wahrnehmung sorgt. Im Postfrieden kommt ein Lieferwagen. Sergej und Paschka tragen die Briefe aus in ihrem menschenleeren Dorf. Und dann zerreißt es den Scharfschützen, der sich in der Kirche einquartiert hatte, und Sergej, zum Aufräumen abkommandiert, wirft ein Ohr in eine Plastiktüte. Als er nach Hause läuft, stellt er etwas Interessantes fest: "In seinem Kopf herrschte Stille, aber als er beschloss zu überprüfen, ob es dieselbe Stille wie draußen war, erkannte er: Nein, draußen war die Stille lauter. Kriegsstille war draußen, und man hörte darin, ohne sich besonders anzustrengen, eine ferne Kanonade, etwas krachte und knallte, aber weit weg." Der Unterschied von draußen und drinnen ist Sergej bewusst geworden. Das ist beunruhigend.

Seine Bienen sind es, die Sergej dazu bringen, aufzubrechen. Er will sie in den Frühling fliegen lassen, Dort, wo sie kein Geschützlärm irritiert. So beginnt eine Fahrt ins Abenteuer, die ihn Station für Station aus der Beschaulichkeit seines Kriegslebens in die Kriegsrealität zweier Länder führt. Vorbei an einer Frau ohne Mann hin zur Familie eines verschwundenen Krimtataren. Die Bienenstöcke sind da noch Ruhepole der Beständigkeit, aus denen schon der ukrainische Gouverneur einst im Schlafe Kraft tankte. Aber Stück für Stück bröckelt auf Sergejs Weg auf die Krim die Selbstbeherrschung. Kurkow erzählt dies in einer Sprache, die die Macht hat, gegen das sinnzersetzende Wesen der Geheimdienste zu wirken. Das ist dieses leise Erstaunen, mit dem sein Protagonist hinnimmt, dass Russen im Donbass gar nicht anwesend sind, allenfalls Separatisten. Kurkow federt durch solche Szenen mit einem süffisanten Humor, der nur im Nachklang seiner Sätze wahrnehmbar ist und so zersetzend auf Propaganda wirkt, dass ihn wohl keine Zensur rückstandslos entfernen könnte.

Andrej Kurkow: "Graue Bienen" (Diogenes), Lesung: Mittwoch, 11. September, 20 Uhr, Bücher Lentner, Balanstraße 14

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SZ vom 09.09.2019
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