Süddeutsche Zeitung

Literatur-Sensation "Ein wenig Leben":Das Buch, das seine Leser zum Weinen bringt

Hanya Yanagiharas gefeierter Roman "Ein wenig Leben" erzählt vom Trauma des Missbrauchs. Ein Anti-Bildungsroman, der sich selbst verschlingt. Und den Leser gleich mit.

Buchkritik von Karin Janker

Es kommt nicht häufig vor, dass ein Literaturkritiker im New Yorker davor warnt, dass ein Buch den Leser verschlingen könnte. Schließlich ist das kein Qualitätsmerkmal für Literatur. Und doch schreibt Jon Michaud in seiner Rezension zu "A Little Life": "Yanagiharas Roman kann Sie verrückt machen, Sie verschlingen und Ihr Leben übernehmen." Und die Zeitschrift The Atlantic schreibt: "Wenn die Länge der Zeit, die man weint, während man ein Buch liest, ein Indiz für seine Qualität ist, dann ist Hanya Yanagiharas 'A Little Life' erstklassig."

Auf die Shortlist des Man Booker Prize und ins Finale des National Book Award kam der Roman aber nicht deshalb, weil er die Jury zu Tränen rührte. Seine Anziehungskraft erschöpft sich nicht im Melodramatischen, ihre Quelle liegt tiefer, sie entspringt der narrativen Struktur. Es gelingt Hanya Yanagihara in diesem Roman, das Erzählen selbst seinem Abgrund zuzuführen und den Leser in diesen Strudel mit hineinzureißen.

Hanya Yanagihara wurde 1975 in Los Angeles geboren und ist hawaiianischer Abstammung. Schon in ihrem Erstling "The People in the Trees" (2013) widmete sie sich dem Thema Missbrauch. Während damals allerdings aus der Täterperspektive erzählt wurde, konzentriert sich "Ein wenig Leben" auf ein Opfer. Der Roman — Stephan Kleiner hat ihn so souverän ins Deutsche übertragen, dass man ohne schlechtes Gewissen auch die Übersetzung lesen kann — erzählt von der Freundschaft zwischen vier jungen Männern in New York.

Jude quälen sehr viel dunklere Ängste als seine Freunde

Die Handlung setzt ein, als Malcolm, JB, Willem und Jude 27 Jahre alt und dabei sind, sich eine berufliche Zukunft aufzubauen. Zusammengeschweißt durch Collegenächte, die sie zusammen in einem Viererzimmer verbracht haben, werden die vier auch die nächsten drei Jahrzehnte miteinander in Kontakt bleiben, denn so weit erstreckt sich die Handlung des Romans.

Erzählerisch entscheidender als die Gegenwart sind allerdings die Schnitte, die die Erzählung in die Vergangenheit setzt, um sie auszuweiden und zum Vorschein zu bringen, was Jude von seinen Freunden unterscheidet. Denn nach der ausführlichen Einführung, die Malcolm, JB und Willem mit ihren kleineren Sorgen (sexuelle Orientierung, künstlerische Identität, elterliche Erwartungen) vorstellt, schwenkt die Erzählperspektive auf Jude und kommt bis zum Ende nicht mehr von ihm los. Schnell wird klar, dass ihn sehr viel dunklere Ängste quälen als seine Freunde. Jude ist das Epizentrum der Handlung. Um ihn kreist alles, was sich fortan ereignen wird.

Immer wieder hat er Schmerzanfälle. Erkennbar werden sie "an dem konstanten, kolibrihaften Flattern" seiner Lider und "an der Art, wie er die Hand so fest zur Faust ballte, dass Willem das meergrüne Garn seiner Adern auf dem Handrücken hervortreten sah". Aber er sagt seinen Freunden nicht, woher die Schmerzen kommen. Und die Freunde fragen ihn nicht. Sie wissen auch nicht, warum Jude keine Eltern hat. Oder was es mit seiner Kindheit im Kloster auf sich hat. Und auch für den Leser bleibt lange unklar, warum Jude so sehr leidet, was es mit seinem Hinken auf sich hat und warum er nie eine Freundin oder einen Freund hatte.

Der Roman handelt von der Sprachlosigkeit, die seine Hauptfigur umgibt

"Sein Gehirn erbrach Erinnerungen, sie überfluteten alles andere — er dachte an Menschen, Empfindungen und Ereignisse, an die er seit Jahren nicht gedacht hatte. Geschmäcker erschienen auf seiner Zunge wie durch Alchemie; er roch Dinge, die er seit Jahren nicht gerochen hatte. Sein System war gestört; er würde in seinen Erinnerungen ertrinken". Die bilderreiche Sprache Yanagiharas entfaltet langsam, was diese tiefe Wunde in Jude geschlagen hat. Er wurde als Kind misshandelt, vergewaltigt, missbraucht. Und diese Kindheit hat nicht nur körperliche Narben hinterlassen. Erinnerungen an sie blitzen in Judes Flashbacks auf, schreckliche Ereignisse, auf die Andeutungen der Erzählstimme vorausweisen.

Man könnte der Autorin vorwerfen, dass sie gelegentlich mit Cliffhangern und Thrillerelementen Spannung erzeugt, etwa dort, wo sie andeutet, dass Jude seinen Mentor Harold hintergehen wird: "Er weiß es noch nicht, aber in kommenden Jahren wird er Harolds Treueschwur wieder und wieder auf die Probe stellen, wird sich gegen seine Versprechungen schleudern, um ihre Festigkeit zu prüfen." Tatsächlich wären solche Vorausdeutungen unredlich, wenn es ihr nur darum ginge, den Leser bei der Stange zu halten, indem sie seinen Voyeurismus häppchenweise mit Horror füttert.

Doch wenn man den Roman insgesamt betrachtet, muss man die Autorin verteidigen. Es ist konsequent, dass sie das Erzählen verzögert, denn tatsächlich handelt "Ein wenig Leben" vor allem von der Sprachlosigkeit, die von Jude ausgeht. Nicht einmal sein bester Freund Willem wagt zu fragen, warum Jude stets lange Ärmel trägt. Er fürchtet sich vor der Antwort. Jude ritzt sich die Arme mit Rasierklingen auf, um die "Hyänen" der Vergangenheit zu bändigen. Er verfügt selbst "nicht mehr über die dafür notwendige Sprache", um darüber zu sprechen, was ihm geschehen ist. Das Schweigen, das ihn anfangs schützen sollte, droht ihn zu erdrücken.

Dabei unternimmt Jude immer wieder Versuche, aus der Sprachlosigkeit auszubrechen. Die Splitter, die er dann preisgibt, treiben die Handlung des Romans in die Vergangenheit zurück. Wie die Rasierklingen, die Jude sich ins Fleisch rammt, um mit dem jähen Schmerz die Scham zu übertönen, gräbt sich die Erzählstimme in Judes Vergangenheit. Der Leser nimmt nicht nur am Martyrium seiner Kindheit teil, er wird zugleich zum Zeugen seiner Selbstzerfleischung. Jude ist ein Schmerzensmann, ein Büßer, auf den keine Erlösung wartet.

Hanya Yanagihara hat den Roman als Versuchsanordnung angelegt: Was passiert, wenn in der Mitte der Handlung ein schwarzes Loch liegt, dessen Schwerkraft so stark ist, dass kein Licht, keine Materie und keine Information nach außen dringen kann? Diese Anordnung treibt das Erzählen selbst in eine Krise. Der Roman kreist mit immer größerer Geschwindigkeit um eine Hauptfigur, die sich dem Erzählen verweigert. Dass das über 960 Seiten spannend bleibt, ist große Kunst. Die Autorin erzählt nicht von einem Trauma, sie macht das Trauma selbst zu einem Modus des Erzählens und nähert sich seinem Ursprung in konzentrischen Kreisen.

Zwar hat Jude irgendwann alles erreicht, was ein neben einer Mülltonne ausgesetztes Waisenkind erreichen kann — lichtdurchflutetes Loft in SoHo, glänzender Ruf als Anwalt, illustrer Freundeskreis. Er wäre das Sinnbild des amerikanischen Traums - vom Findelkind zum Millionär. Aber er entkommt seiner Vergangenheit nicht. Sie wird "lebendiger, je weiter er sich von ihr entfernt". Jude verkörpert Stagnation, Schmerz und Einsamkeit, seine Geschichte ist ein großer Anti-Bildungsroman. Der amerikanische Traum als individuelles Projekt, die eigene Vergangenheit hinter sich zu lassen, geht in "Ein wenig Leben" nicht in Erfüllung.

Dieses Buch kann einen tatsächlich verschlingen

Das Buch durchkreuzt diesen Traum mit dem subversivsten Mittel, das die Literatur besitzt, der Selbstzerstörung der eigenen Erzählung. Die Dunkelheit, die Jude umgibt, verschluckt alles Licht und alle Fröhlichkeit, die Erzählzeit krümmt sich um ihn, es gibt kein Fortkommen. Ständig muss er daran denken, "was für ein blutiger, dreckverkrusteter Fetzen sein Leben war". Von Jude geht eine Schwerkraft aus, die alles mit sich reißt. Das gilt nicht nur für die anderen Figuren im Roman, die im Vergleich zu ihm zu Nebendarstellern werden. Es gilt auch für den Leser. Dieses Buch kann einen tatsächlich verschlingen.

Diese Erzählstruktur ist Stärke und Schwäche des Romans zugleich, aber eine Schwäche, der sich die Autorin freiwillig ausliefert. Einerseits ist es geschickt von ihr, so zu erzählen, dass man als Leser das Buch nicht mehr aus der Hand legen kann, obwohl im Kern eigentlich nichts Neues passiert. Hanya Yanahigara schreibt so emphatisch über Jude und seine Freunde, die sich selbstlos um ihn kümmern, dass man tatsächlich Zeuge sowohl von unendlicher Gewalt als auch von grenzenloser Liebe und Vergebung wird. Immer wieder keimt die Hoffnung auf, es könne am Ende doch noch alles gut werden.

Andererseits aber erwächst aus dem schwarzen Loch im Zentrum eine Kraft, von der die Erzählung selbst zermalmt zu werden droht. Dass in diesem New-York-Roman die Stadt selbst blass bleibt und Ereignisse wie der 11. September oder der Irakkrieg nicht vorkommen, ist kein Versagen der Autorin, sondern der Struktur des Romans geschuldet. Ebenso wie die Tatsache, dass es zwischen dem unendlich Guten, das Jude in Gestalt seiner Freunde umgibt, und dem unendlich Bösen, das diese Figuren von außen bedroht, keine Graustufen gibt. "Ein wenig Leben" ist kein realistischer oder psychologischer Roman. Er ist ein Modellversuch. Yanagihara sagt, sie habe keine Recherchen über Missbrauchsopfer angestellt, sondern das Buch binnen 18 Monaten in fiebriger Nachtarbeit heruntergeschrieben.

Der Kunstfertigkeit der Autorin verdankt sich die Sogwirkung dieses Romans, der man sich kaum entziehen kann. Die Krise des Erzählens wird zur Metaebene des Melodrams. Um leben zu können, müsste Jude erzählen. Einmal kritisiert Willem das Versprechen der Psychotherapie, das Leben sei "in irgendeiner Weise reparabel". Dass Erzählen heilen kann, ist die Grundannahme der Psychoanalyse seit Freud. "Ein wenig Leben" handelt davon, wie Jude immer wieder daran scheitert, an der Heilkraft des Erzählens teilzuhaben. Erst ganz am Ende setzt er an, zum ersten Mal aus freien Stücken, davon zu erzählen, wie er damals während einer Party vom Dach gesprungen ist. "Es ist eine gute Geschichte", sagt er. "Ich erzähle sie dir." Als er zu erzählen beginnt, endet notwendigerweise der Roman.

Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben. Roman. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Hanser Berlin Verlag, München 2017. 960 Seiten, 28 Euro. E-Book 19,99 Euro.

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SZ vom 28.01.2017/doer
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