Süddeutsche Zeitung

Literatur:Sarah Kuttner schreibt ein bisschen über sich selbst

Klischees, schiefe Bilder, Gefühliges - das neue Buch der früheren MTV-Moderatorin hat all das. Trotzdem ist "180° Meer" kluge Unterhaltung.

Buchkritik von Kathleen Hildebrand

Eine Prostituierte der menschlichen Emotionen sei sie. Das sagt Jule, wenn sie sich und ihren ungeliebten Job beschreibt. Sie ist Anfang dreißig. Zweimal pro Woche singt Jule in einer Bar in Berlin. Sie singt Soul, schlechten Soul, und selbst wenn ein Song mal eigentlich gar kein Soul ist, dann wird er von ihr und ihrem Pianisten trotzdem "kaputtgesoult".

Dabei mimt sie die Soulsängerin, die sie eigentlich nicht ist, mit einem sehr kleinen Repertoire an Mimik und Gestik, von dem sie weiß, dass die Leute genau diese Mimik und diese Gestik von einer Soulsängerin erwarten. Den Pianisten kann sie auch nicht leiden. Es macht sie wütend, dass er so ambitioniert ist, so zielstrebig, wie sie selbst es nie war. Dass er etwas will.

Jule, die Ich-Erzählerin von Sarah Kuttners drittem Roman, will indes gar nichts. Das heißt, eigentlich will sie schon etwas, nämlich eine Art reines Sein, in dem niemand etwas von ihr will, niemand Ansprüche an sie stellt. So wie Omas und Opas das können, sagt Jule, Eltern aber nicht. Die sind zu nah dran, so wie Jules Mutter, im Buch immer nur "Monika" genannt, immer zu nah an ihr dran ist.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Roman stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Diese alleinerziehende Mutter, mit der sie nichts verbindet außer einer gewaltigen Wut, die immer dann aufflammt, wenn Monika bei Jule anruft. Mehrmals hintereinander, auch wenn gar nichts Wichtiges ist. Die Tochter ringt um Distanz und darum, dass die seelischen Zudringlichkeiten dieser schwer egozentrischen, depressiven Frau, für die Jule von Kindheit an Stütze sein musste und Lebensinhalt, endlich ein Ende haben.

Wohltuend anonym

Der Vater? Hat unerfüllbare Ansprüche an Jule gestellt. Ist dann sehr früh abgehauen und gibt jetzt eines der vielen Ziele von Jules dauernd einsatzbereiter, riesengroßer Wut ab. Auf die Welt. Auf alle anderen.

Kuttners Roman setzt ein, als Jules ungeliebtes Leben zusammenbricht. Ihr einziger Rückzugsort, die Beziehung mit ihrem Freund Tim, gerät in eine schwere Krise - und Jule flieht. In London, bei ihrem jüngeren Bruder Jakob, will niemand etwas von ihr.

Die Geschwister rauchen Joints auf der Terrasse, Jakobs Zweck-WG ist wohltuend anonym, und dann ist da noch ein kratzbürstiger kleiner Hund, der auch nichts will, in dem Jule sich wiedererkennt und den sie bald täglich an einer Paketschnur um die Blocks führt. Eine tröstliche Pause, jedenfalls bis zu dem Moment, als Jakob ihr von der tödlichen Krebserkrankung des Vaters erzählt.

Natürlich könnte an diesem Punkt die Klischeemaschine anspringen und den Roman verlässlich tuckernd an ein Happy End mit Träne im Knopfloch führen. Es ist ein großes Verdienst Sarah Kuttners, dass dies nicht geschieht, sondern Jule vielmehr in einem schönen Wutausbruch sagen darf, dass sie jetzt das Gefühl habe, "Teil einer gefeierten Sundance-Tragikomödie über eine dysfunktionale Familie zu sein, in der alle nur mal den Arsch hochkriegen und ihren wahren Gefühlen freien Lauf lassen müssen, damit das widerspenstige Familienoberhaupt am Ende doch irgendwie verstanden wird und dann geliebt sterben kann. Aber so einfach ist es nicht. Und ich kann das alles nicht beschleunigen oder besser machen oder auf den letzten Metern noch mal all meine aufgestaute Liebe aus einem geheimen Jutebeutel kramen und alles wiedergutmachen. Geht einfach nicht. Sorry."

Geht einfach nicht. Es sind solche grundwahren Einsichten, die immer wieder aus dem konstanten, sanft rotzigen Geplapper und den vielen eher belanglosen Beschreibungen herausstechen. Ihretwegen ist "180° Meer" keine schlechte Literatur, sondern kluge Unterhaltung. Alles, was man Kuttner als Autorin vorwerfen könnte, die Klischees, die schiefen Bilder, das Gefühlige, nimmt sie vorweg und bricht es.

Das tut sie so geschickt, dass man nach einer Weile nicht einmal mehr weiß, ob man sich über das ziemlich nachlässige Lektorat des Buches ärgern soll, oder ob die unmotiviert wechselnden Zeitformen, falschen Adjektive ("verwirrendes Haar") oder die unfassbare Häufigkeit, mit der das Wörtchen "unfassbar" benutzt wird, irgendwie doch dazugehören.

Vielleicht soll das ja so sein, vielleicht ist das der Ausdruck von Jules Charakter, dass sie nicht fünfmal überlegt, bevor sie einen Satz sagt, sondern einfach nur reden will. Und dann in Ruhe gelassen werden will.

Sarah Kuttner kann das richtig gut, das Genau-Hinschauen auf Alltäglichkeiten, die sie auch sofort ungefiltert ausspricht. Ihre Zeit als Moderatorin bei Viva, MTV, ARD und ZDFneo merkt man diesem sehr souveränen Überbrückungsplappern an. Ihr Buch liest sich nicht so sehr wie hohe, formbewusste Literatur denn wie ein sehr offenes Gespräch mit - Sarah Kuttner.

Perfekt zwischen Trotz und Rührung austariert

Überhaupt: dass Jule angeblich "unfassbar stark gelocktes Haupthaar" hat, glaubt man schon ziemlich früh nicht mehr, sondern sieht Sarah Kuttner mit ihrem glatten Haar an der südenglischen Küste Fahrrad fahren, dem Hund Stöckchen zuwerfen und mit ihrem anstrengenden Vater hadern, der noch weniger Zugang zu seinen Gefühlen findet als Jule selbst.

Um diese Nähe zwischen Autorin und Figur festzustellen, muss man gar nicht wissen, dass es da ein paar autobiografische Parallelen gibt. Dass Sarah Kuttner nach der Trennung ihrer Eltern bei ihrer Mutter aufwuchs zum Beispiel, oder dass sie nach dem Abitur für ein Jahr nach London ging und dort in einem Secondhandshop jobbte wie Jule im Buch.

Solche Realitätsbezüge sind gar nicht wichtig, wenn ein Buch denn nur etwas Wahres zu sagen hat und - wie in diesem Fall - mit seinem perfekt zwischen Trotz und Rührung austarierten Ende sogar ein tiefes Gefühl hinterlässt. Nur eins sei noch gesagt zum Schluss: Sarah Kuttner lebt mit ihrem Hund in Berlin.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2944036
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 12.04.2016/pak
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.