Literatur rund ums Mittelmeer:Weißes Meer, weiße Städte

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Vom Wannsee aus über Triest, Alexandria und Tirana nach Algier und Athen: Auf dieser Route geht ein Konsortium aus Schriftstellern, Dichtern und Denkern der Frage nach, ob es ein gemeinsames kulturelles Gedächtnis des Mittelmeerraums gibt.

Volker Breidecker

Eine "Mittelmeerunion" - es gibt sie schon sehr lange, und man muss dazu gar nicht jene Chimäre beschwören, die Nicolas Sarkozy vor einigen Jahren auf den Sand gesetzt hat. So lange aber, wie es Mittelmeerkonferenzen gibt - also seit Platons "Symposion" -, solange existiert auch die verschwiegene Union jener Hafen- und Meeresstädte, die wie Perlen einer Schnur das große Rund des Mittelmeerraums umsäumen. Ihre Bewohner sind zumeist "indigene Fremde" - wie Albert Camus sie nannte, der selbst einer war -, und ihr Völkergemisch bringt multiple Identitäten vor, die ihre Mehrfachloyalitäten pflegen. Ganz nebenbei haben sie so kostbare Werte wie die Toleranz erlernt.

Das UN-Flüchtlingshilfswerk hat das Mittelmeer gerade zum "tödlichsten Gewässer der Welt" erklärt. Von der europäischen Politik enttäuscht, erwarten viele nicht mehr, als künftig in Ruhe gelassen zu werden. (Foto: REUTERS)

Wegen des gleißenden Lichts über den flachen Dächern geweißter kubischer Bauten nannte Joseph Roth sie "Die weißen Städte" und sang ihre Hymne. Schon die provenzalischen Städte waren für ihn durch sichtbare wie unsichtbare Fäden mit den fernen orientalischen Stätten seiner Vorfahren am südlichen Meeresufer verbunden: "Aber ein Sturm blies unser Gefährt in die Weite . . . ", rief er vor Walter Benjamin den mediterranen Engel der Geschichte zum Zeugen. Araber wie Türken sprechen vom ganzen Mittelmeer als dem "Weißen Meer".

Unter diesem Leitbegriff wurde unter dem Dach des Literarischen Colloquiums Berlin (LCB), getragen von der Allianz Kulturstiftung, jetzt ein Projekt aus der Taufe gehoben, das von Berlins Wannseehafen aus den "Literaturen rund ums Mittelmeer" folgen wird: Über wechselnde Orte und mit einem wechselnden Tross von Autoren - mit ihren Werken und Ideen im Gepäck - will man in den kommenden Jahren die Perlen jener Schnur der Mittelmeerstädte nach und nach abtasten - nicht linear, sondern nach der hüpfenden Gangart der Poesie zu Orten, die es entweder neu zu entdecken gilt oder an denen es gerade brennt oder etwas vor- oder nachglüht. Triest, Alexandria, Tirana, Algier und Athen sind die geplanten Folgestationen.

Das Projekt ist auch deshalb so vielversprechend, weil es uralten Handelswegen folgt, über die seit Jahrhunderten nicht nur Waren und Menschen, sondern mit ihnen auch Sprachen, Kulturen, Ideen und Literaturen - zum Beispiel die altindische und griechische-antike durch arabisch-islamische Vermittlung - ausgetauscht wurden. Schifffahrt am Mittelmeer war nämlich immer Küstenschifffahrt, die von Hafen zu Hafen führte, deren jeder seine Tore gegenüber dem Neuen und - ganz wörtlich genommen - "Tradierten" gleichermaßen öffnete - nur dem Genus nach verschieden sind die italienischen Wörter "porto" (Hafen) und "porta" (Tor).

So bot das LCB am vergangenen, hochsommerlichen Wochenende bei afrikanischer Hitze einen wunderbaren Ausblick auf künftige Konferenzen mit Vertretern der verschiedenen Mittelmeerliteraturen. Als sich am Abend eines langen Tages der Lesungen vier Autoren und ihre Übersetzer im Halbrund um die Lyrikerin und Essayistin Ilma Rakusa als Moderatorin versammelten, war die Stimmenvielfalt eines melodisches Geflüsters in fünf Sprachen - Griechisch, Arabisch, Deutsch, Französisch, Englisch - zu vernehmen: Das war Wortmusik im Vorgeschmack auf eine ideale Mittelmeerkonferenz, an der einmal alle Anrainernationen mitsamt ihren Sprachminderheiten versammelt sein sollten.

Als habe er eine ähnliche Vision befand der Ägypter Khaled Al-Khamissi - den Lesern der SZ aus dem Vorjahr vertraut durch die Kolumne "Im Taxi", darin er den Kairoer Taxifahrern ihre Geheimnisse ablauschte - im Blick über den Zuschauerraum auf einen rotglühenden Sonnenuntergang hinter dem Wannsee ganz verschmitzt: "Es sind mal wieder nur die Schriftsteller, die das sehen können."

Aus Algerien war Maissa Bey gekommen und sprach über die Rolle der Frauen in der arabischen Revolte, über deren starke und sichtbare Präsenz in der Öffentlichkeit, wo das Kopftuch oftmals nichts anderes bedeute als ein nachdrückliches Unterstreichen des Willens, einfach "da", öffentlich präsent zu sein. Al-Khamissi berichtete Ähnliches aus den Straßen von Kairos Auch dort bietet die Rolle der Frauen den Lackmustest auf das Gelingen oder Misslingen aller politischen wie kulturellen Veränderungen. Letztere hält er für bereits so gefestigt, dass der Reaktion auf lange Sicht keine Chance bliebe. Ägypten aber, das Land, in dem die Zeit erfunden wurde, bräuchte Zeit, und die nehme es sich auch.

Von Europas Politik und seinen Politikastern, die - wie der west-östliche Kulturvermittler und Lyriker Joachim Sartorius sagte - durch ihr Schweigen und ihr Untätigkeit schon im Falle Tunesiens, danach Ägyptens und jetzt Syriens versagt haben, erwarten Bei und Al-Khamissi einmütig "nichts mehr" - außer, "dass sie uns in Ruhe lassen". Europas Versagen, sagte Al-Khamissi, zeuge für das "Sterben der Politik" schlechthin. An ihre Stelle müssten andere, neue Formen des öffentlichen Handelns treten.

Gibt es bei allem Trennenden - und so schön und überzeugend sich alle Mittelmeermodelle auch ausnehmen: das UNO-Flüchtlingswerk hat es gerade zum "tödlichsten Gewässer der Welt" erklärt -, ein gemeinsames kulturelles Erbe der Völker, die am Mittelmeer leben? Auch dort gilt leider noch immer der Satz Primo Levis, an den der griechische Lyriker Haris Vlavianos erinnerte: "Jeder ist des anderen Jude". Vlavianos' eigener Entwurf schloss dagegen mit dem Wunsch, ". . . im schönsten Meer meines Lebens keine Grenze vor mir zu sehen, sondern eine Passage, einen Übergang vom Ufer der zwanghaften Intoleranz zu dem der schöpferischen Verbindung".

Gibt es ein kollektives Gedächtnis des Mittelmeerraums? Gibt es gemeinsame Erinnerungsorte?, fragte Sartorius, auch er ein Mittelmeergewächs, nicht der Geburt, sondern der Emotion nach. Fragen wie diesen wird das Projekt an beiden Ufern des "geteilten Meeres" (Predrag Matvejevic) nachgehen.

Vorläufig gingen ein paar mythische Namen um: Antigone, Medea, Elektra, Penelope, Scheherezade - lauter Frauen, alle bereits in modernen Gewändern, aber auch ein Mann war dabei: Ein beschädigter Odysseus, den Ilma Rakusa in eine andere Heimatstadt zurückkehren ließ, nicht nach Ithaka, sondern nach Triest. Nächste Station.

© SZ vom 10.07.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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