Literatur-Recycling:Mein Buch wird das Weltklima verbessern

Denn es wird zu Dämmstoff für Hauswände verarbeitet. - Unser Autor begleitete die 1703 nicht verkauften Exemplare seines Debütromans auf ihrem Weg in die Schreddermaschine.

Nicol Ljubic

Der Brief kam vor einigen Wochen. Absender war der Verlag, bei dem mein erstes Buch erschienen ist oder vielmehr erschienen war. Es gibt dieses Buch nicht mehr. Wenn Sie in der Buchhandlung danach fragen, wird man Ihnen sagen, es sei vergriffen. Was eindeutig schöner klingt als: Es wurde zu Dämmmaterial verarbeitet. Aber der Reihe nach.

Nicol Ljubic

Nicol Ljubic.

(Foto: Foto: Gerrit Hahn)

In dem Brief wurde mir mitgeteilt, dass der Verlag leider eine Reihe von Titeln aus dem Programm nehmen müsse, weil der Buchhandel sie nicht mehr nachordere. "Wir möchten nun folgenden Titel makulieren: ,Mathildas Himmel'." Das Wort "makulieren" kannte ich nicht. Im Duden stand unter "Makulatur": "Fehldruck, Altpapier." 1703 Exemplare waren übriggeblieben und hatten nach fünf Jahren offenbar die Bedeutung von Altpapier erlangt, "trotz Anstrengungen des Außendienstes". Der Verlag fragte, ob ich Freiexemplare haben mochte.

Meine Mutter sagte, die nimmst du, und wir verkaufen sie für einen Euro pro Stück, 1703 mal 1 Euro - das ist eine Menge Geld. Aber mir war der Gedanke unangenehm, dass meine Mutter von Tür zu Tür ging und meine Bücher anbot. Außerdem hatten es alle Nachbarn schon. Dafür hatte sie kurz nach Erscheinen des Buches bereits gesorgt.

Ich hatte von einem Autor gehört, der sich zweitausend Bücher in die Wohnung gestellt hat, und schon damals tat er mir leid. Welcher Anblick konnte trauriger sein als ein Autor, der inmitten seiner Bücher lebte, die außer ihm keiner mehr haben wollte? Aber ist das nicht mit allem so? Wenn man etwas nicht mehr möchte, gibt man es weg. Kleider, Autos, Freundinnen. Wieso sollte es mit Büchern anders sein? Wie würde die Welt aussehen, wenn alle Bücher, die jemals geschrieben wurden, auf ihr blieben? Hätte die Menschheit dann überhaupt noch Platz zum Leben? Ich wünschte, das wären die Fragen gewesen, die ich mir stellte, als ich den Brief gelesen hatte.

Stimmen aus den Wänden

Die Fragen, die ich mir wirklich stellte, aber lauteten: Wieso mein Buch? Es gibt so viele schlechte Bücher, wieso ausgerechnet meines? Und wenn Sie wissen möchten, wie ich mich nach Lektüre des Briefes gefühlt habe, dann würde ich sagen: Ich war gekränkt.

Ein Jahr lang hatte ich an dem Buch geschrieben, und in jener Zeit gab es für mich nichts Wichtigeres, es war mein erstes Buch, und ich hatte die Hoffnung gehabt, es würde ein Erfolg werden. Ich hatte eine Frau erschaffen, Mathilda, die an ihrem 18.Geburtstag erfährt, dass sie adoptiert ist. Sie nimmt am nächsten Morgen Reißaus und macht sich auf in die nächste Großstadt. Am Ende hat sie sich von ihrem Adoptivvater emanzipiert und entdeckt die Weite des Himmels, den sie immer nur als Ausschnitt im Fenster ihres Dachgeschosses gesehen hatte. Während ich jeden Tag vier Stunden an dem Buch schrieb, wurde diese sture, widerspenstige, junge Frau ein Teil von mir, sie lebte mit mir und drängte sich manchmal zwischen meine Freundin und mich. Dann bekam ich das Gefühl, ich muss jetzt zu ihr, sie wartet.

Als ich die letzte Zeile geschrieben hatte, kamen mir die Tränen. Nicht, weil ich von meinem Text so gerührt gewesen wäre, es war eher die Art von Tränen, die man im Film sieht, wenn der Held alle seine Abenteuer überstanden hat. Danach schickte ich Mathilda zum Verlag, und so wie sich ihr Vater Sorgen machte, als er sie in die Welt schickte, machte ich mir auch Sorgen. Ich hatte Angst, sie würde auf Ablehnung stoßen, Angst, ich könnte etwas geschrieben haben, das nur mich interessiert. Hätte mir damals jemand gesagt, Mathilda wäre ein guter Dämmstoff, ich hätte nie wieder ein Wort mit ihm geredet, so wie ich nie ein Wort mit dem Kritiker reden werde, der geschrieben hat, man könne Nicol Ljubic schwerlich einen Sprachartisten nennen, seine Sätze seien nicht nur schlicht, sondern auch matt und kraftlos.

Nun sollte also etwas, das für mich gelebt hatte, in den Schredder. Ob das schmerzt? Keine Ahnung. Ich würde es herausfinden.

Die Firma, in der mein Buch makuliert werden soll, heißt: "Dobry Dämmsysteme GmbH". Sie sitzt in Dockweiler in der Eifel. Am Tag, als ich ankomme, fällt der erste Schnee des Jahres. Ich bin kein Esoteriker, ich glaube nicht an einen Büchergott oder dass Mathildas Seele in der Dämmung weiterleben wird. Aber ich fand es nett, dass Frau Vegelahn am Telefon sagte, sie habe Kunden, die ihre Häuser mit Büchern gedämmt hätten und die deren Geist jetzt spürten. Sie sagte: "Seien Sie nicht traurig, es ist nicht der letzte Weg Ihres Buches, sondern der vorletzte."

Lesen Sie im zweiten Teil, wie die 1703 Exemplare von Nicol Ljubics erstem Buch in den Schredder wandern.

Mein Buch wird das Weltklima verbessern

Die Halle der Firma Dobry steht am Ortsrand von Dockweiler und sieht aus wie eine typische Lagerhalle, ein Baucontainer im Großformat. Ellen Vegelahn bittet mich, im Büro Platz zu nehmen. Sie ist 52 Jahre, in Köln geboren und sie sagt, sie möge Bücher. Sie habe schon immer viel gelesen, sagt sie, und als Kind ihr Taschengeld für Bücher ausgegeben. Kurt, ihr Mann, baut gerade Regale für die vielen Reclam-Hefte, die sie haben. In ihrem Haus gibt es eine Bibliothek, die 160 qm groß ist. Ob sie einen Lieblingsautor habe? Sie möge Krimis, sagt sie, und Bücher, die in Irland oder Skandinavien spielen.

"Und wie fühlen Sie sich, wenn Sie Bücher zerhexeln?"

"Wissen Sie", sagt sie, "als die ersten Lieferungen kamen, konnte ich nächtelang nicht schlafen. Ich dachte an die Bücherverbrennungen, und obwohl ich nicht abergläubisch bin, hoffte ich, dass sich das nicht rächen werde."

Und fertig ist die Zellulosedämmwolle

Sie erzählt von ihrem Besuch auf der Buchmesse und dass dort nicht gut ankomme, was sie mache. Man ging ihr aus dem Weg, und sie fühlte sich wie eine Totengräberin unter all den Autoren und Lektoren. Sie war die Erste, die auf die Idee kam, Bücher zu Dämmmaterial zu verarbeiten. Einer ihrer Brüder ist Buchhändler und erzählte ihr einmal, dass Bücher als Sondermüll gelten, und man sie nicht einfach wegwerfen darf. Als sie für ihre Firma eines Tages nicht genug Altpapier hatte, schrieb Ellen Vegelahn Verlage an, und bald bekam sie immer mehr Bücher geliefert, die der Buchhandel "trotz Anstrengung des Außendienstes" nicht mehr nachorderte.

Es ist bisher aber kein Autor auf die Idee gekommen, nach Dockweiler zu reisen und der Wiederverwertung seines Buches zuzusehen. Ich frage mich: Bin ich der Einzige, dessen Bücher in Häuserwände wandern? Oder interessiert es die anderen nicht? Nehmen sie es leichter als ich oder schwerer? Ich arbeite als Journalist, und es war immer klar, dass die Zeitung am nächsten Tag ins Altpapier kommt. Aber Bücher sind keine Zeitungen, Bücher sind für die Ewigkeit - nur eben nicht alle. Irgendwann müssen die, die niemand mehr will, Platz machen in den Lagerhallen der Verlage für neue. Macht die Firma Dobry also letztlich nicht etwas Sinnvolles?

In der Halle lagern Stapel von Altpapier, Paletten von Büchern, es ist laut und riecht nach Papier. Erst kommen die gebundenen Seiten in den Schredder, dann in den Zyklom, wo ein Magnet alles Metallische herauszieht, dann in die Papiermühle, wo die Fasern aufgeschlüsselt werden und wo es mit Brandschutzmittel angereichert wird, und am Schluss werden die Mikroschnipsel in Papiersäcke à 15 Kilo geblasen. Und fertig ist die Zellulosedämmwolle "Dobry-Ekovilla 040", mit einer Rohdichte von 35-60kg/m3 und der Brandklasse B2 nach DIN 4102. Der Stoff, der nun auch aus "Mathildas Himmel" gemacht wird, hat von der Zeitschrift Öko-Test das Gütesiegel "Sehr gut" bekommen. Beim Hausbau wird es mit Hochdruck zwischen die Mauern und Decken geblasen. Häuser, die damit isoliert werden, verbrauchen bis zu 24 Prozent weniger Heizenergie.

Mein Buch wird das Weltklima verbessern. So könnte ich es auch sehen.

"In gewisser Weise retten wir die Bücher", sagt Ellen Vegelahn. Es gebe viele Menschen, die nicht lesen, die kaum Bücher hätten und denen bringe sie die Bücher näher, ins Haus sozusagen. "Es gibt Menschen", sagt sie, "die haben mehr Bücher in den Wänden als vor den Wänden." Offenbar spüren die Menschen das. Es gibt Kunden, die darum bitten, keine "Bild"-Zeitung zu verarbeiten, weil sie die schlechten Nachrichten nicht in ihren Wänden wollen. Irgendetwas muss da sein, irgendetwas Metaphysisches, weil sich die Dämmstoffe aus Büchern besser verkaufen als andere. Vielleicht ist es auch nur das schlechte Gewissen, sie nicht gelesen zu haben.

Loslassen können

Vielleicht bin ich altmodisch, aber ich finde es natürlich schöner, wenn Menschen Bücher vor statt in den Wänden haben. Ich kann mir ein Leben ohne Bücher nicht vorstellen, und es macht mich nicht glücklich zu wissen, dass Mathilda bald in Hauswände geblasen wird. Ich sehe das Cover, das mir nie wirklich gefallen hat, ein junges Mädchen, das hinter einem matten Fenster sitzt. Ich sehe Marion, deren Aufgabe es ist, die Buchdeckel abzureißen, weil fast alle Deckel einen Folienüberzug haben, den man nicht verarbeiten darf. Mit einem Teppichmesser schlitzt sie die Bücher auf und bricht ihnen dann das Rückgrat. Die Deckel werden entsorgt, das Papier wandert in die Maschine. Ich lese die Widmung, die ich meinem Roman vorangestellt habe: "Für Lisbeth Spauke, in Erinnerung, und meine Eltern, in Dankbarkeit." Es ist das erste Mal, dass mir schwer ums Herz wird.

Ich kann keinem Buch etwas zuleide tun. Selbst die gelesenen sehen aus wie neu. Meine Freundin traut sich schon lange nicht mehr, Bücher zu lesen, die ich gekauft habe. Sie sagt immer, du hast eine Macke, Bücher sind Gebrauchsgegenstände. Möglicherweise hat sie recht.

Ich nehme einige Exemplare und werfe sie in den Schredder. Es knirscht ziemlich laut. Ich sage mir: Bücher sind Gebrauchsgegenstände. Es geht nicht um ihre physische Existenz, sondern um das, was sie zurücklassen in den Köpfen und Herzen eines Menschen.

Als ich das Buch zum ersten Mal in den Händen hielt, war ich gerade aus dem Urlaub wiedergekommen. Ein Bote klingelte und drückte mir ein Päckchen in die Hand. Das erste Exemplar, frisch aus der Druckerei, zusammen mit einer Karte meiner Lektorin bei Eichborn. "Alles Gute für das erste Buch". Ich weiß noch, wie ich durch die Seiten blätterte, das Papier zwischen den Fingern spürte, den Geruch.

Ashes to Ashes

Ein Freund von mir, der ein paar Jahre zuvor sein erstes Buch geschrieben hatte, hatte gesagt, das erste Buch in den Händen zu halten, fühle sich an wie ein Neugeborenes. Er hatte keine Kinder. Ich damals auch noch nicht, aber mittlerweile kann ich sagen: Das ist nicht wahr. Das Buch konnte ich ins Regal stellen, was ich in den Händen hielt, war nichts als gebundenes Papier, mir fiel es schwer, es zu überhöhen. Ich konnte es anfassen, aber letztlich diente es nur dazu, Geschichten und Gedanken lesbar zu machen, die sich sonst verloren hätten. War ich stolz? Ich würde sagen: nein. Es fühlte sich gut an, das Buch in den Händen zu halten. Nicht mehr, nicht weniger.

Bevor die 1703 Exemplare in den Schredder wandern, rettet Ellen Vegelahn eine Seele von Mathilda, wie sie es nennt. Sie kommt in ein Regal zu all den anderen Seelen. Von jedem Titel, der geliefert wird, hebt sie ein Buch auf, es sei denn, es wird vom Verlag ausdrücklich untersagt. So ist ein Buchhimmel entstanden, in dem Mathilda jetzt in guter Gesellschaft ist: Robert Gernhardt, Fjodor Dostojewski, Florian Illies, Judith Hermann, Philip Roth, J.M. Coetzee oder Birgit Vanderbeke. Von allen stehen Bücher da. Mathilda ist in guter Gesellschaft, das macht es etwas leichter für mich. Ist es nicht so, dass die Guten in den Himmel kommen?

Ellen Vegelahn sagt, sie habe auch schon Bücher zur Makulatur bekommen, die sie kurz zuvor noch als Neuerscheinungen auf der Buchmesse gesehen habe. Von manchen kommen ein paar Tausend, von anderen nur einzelne Exemplare. Die größte Lieferung war Oskar Lafontaines "Das Herz schlägt links".

Zum Abschied drückt sie mir einen durchsichtigen Plastikbeutel in die Hand. Was darin liegt, muss man sich vorstellen wie den Inhalt eines Staubsaugerbeutels.

So habe ich sie dann mitgenommen, Mathildas Asche.

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