Literatur:Prosperos Eisenwerk

Cover für das Literatur Spezial

Albert Wendt: Tok-Tok im Eulengrund. Das Geheimnis der Vogelfrau. Verlag Jungbrunnen, Wien 2020, 155 Seiten, 15 Euro.

Albert Wendt findet in "Tok-Tok im Erlengrund" ein Zauberreich, in dem zwei Frauen leben, die ein Geheimnis hüten, das für die Menschheit wichtig ist.

Von Siggi Seuss

Manchmal fühlt man sich tatsächlich auf Prosperos Insel verweht. Und Albert Wendt, der Geschichtenerzähler aus dem Leipziger Umland, benützt in seinem neuen Büchlein "Tok-Tok im Eulengrund - Das Geheimnis der Vogelfrau" tatsächlich Anleihen aus Shakespeares letztem Meisterwerk, "Der Sturm".

Das ist aber nur für die Erwachsenen bedeutsam, die hinter den Kulissen der Geschichte alsbald ein feinsinnig gesponnenes Gedankennetz entdecken, mit einer zutiefst menschenfreundlichen Überlebensstrategie. Für alle anderen ist die Erzählung erst einmal eine aufregende Forschungsreise in ein verbotenes Land, eine Reise, die schon Angst macht, wenn man sich das Ungeheuerliche vorstellt, das hinter dem Maschendrahtzaun lauern könnte. Das unbekannte Land, das Albert Wendt diesmal auswählt, - und er ist ein Experte für abenteuerliche Landschaftsarchitektur, selbst in ödesten Gegenden, - ist diesmal ein verfallenes Fabrikgelände mitten im Wald, am Rand einer großen Stadt. Es sind die Ruinen eines Eisenwerks, zuletzt spezialisiert auf Stacheldrahtproduktion, mit Ziegelschlot, herumliegenden Betonplatten, Trümmerbergen, mit Werksbahnhof, verrosteten Gleisen. All das wird überwuchert von wilden Rosen, Geißblatt, Stechginster und Müll - ein einzigartiges Biotop, ein "Viertelparadies", in dem bedrohte Tier- und Pflanzenarten siedeln.

Es geht um nichts Geringeres, als einen Wundervogel zu retten

Mittendrin, im Schaltwerk des Bahnhäuschens, hausen drei Frauen, allem Anschein nach Obdachlose: die alte weise Tok-Tok, die üppige Glü und die schöne Rosalinde, die der Erzähler einstmals liebte. Am Eingangstor haben sie eine Warntafel angebracht: "Sozialstation für unbetreutes Wohnen. Betreten verboten."

Ihr Refugium scheint von allerlei irrlichternden Gestalten bedroht. Die fassbarste Gefahr geht von vier Jugendlichen aus, die die Wildnis für ihre zarten Liebesversuche nutzen wollen, mit einer vorwitzigen Fünfjährigen im Schlepptau. Ja, und dann kommt der Erzähler ins Spiel, der offenen Auges zwischen die Fronten von Frauen, Kindern und zwielichtigen Gestalten gerät. Er wird von den Damen als Kinderschreck angeheuert, weil er sich in Statur und Aussehen hervorragend als Ungeheuer "Kahler Baba" eigne. Mit Fratzen schneiden, Fuchteln, Trällern, Brüllen und Grunzen, um Eindringlinge zu vertreiben. Doch schon bald sympathisiert er nicht nur mit den Frauen, sondern auch mit den Kindern. Und er entdeckt, dass sich hinter den verwahrlosten Frauen Wissenschaftlerinnen verbergen, die ein ausgeklügeltes System der Tarnung nutzen: vorgetäuschte Harmlosigkeit. Schließlich geht es um nichts Geringeres als ein fantastisches Lebewesen aus tausend Hirngespinsten zu retten, einen Wundervogel aus Natur und Geist, dessen Existenz für das Überleben einer zivilisierten Menschheit notwendig ist.

"Tok-Tok im Eulengrund" ist eine hintergründige Geschichte für Kinder und Erwachsene. Wie Albert Wendt Alltägliches und Fantastisches zusammenfügt, Erfahrenes und Erfundenes, Verlorenes und Wiedergefundenes, wie er mit Worten jongliert und auf doppeltem Boden balanciert, wie er sich Orten voller unerwarteter Geheimnisse nähert, das ist große Erzählkunst. Da blühen Gedanken auf wie Stechginster und Luftgeister werden lebendig, wie einst in Prosperos Inselreich. (ab 12 Jahre)

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