Süddeutsche Zeitung

Literatur:Oulipo

Danke, Diaphanes! Der Zürcher Verlag bringt vergessene und unbekannte Werke der französischen Experimentier­literaten heraus.

Von Alex Rühle

Das Ouvroir de littérature potentielle (Werkstatt für potenzielle Literatur), kurz Oulipo, wurde 1960 von einer Gruppe französischer Literaten, Mathematiker und Schachspieler gegründet. Ihr ästhetisches Programm umschrieben sie selbst einmal mit den Worten, sie seien "Ratten, die sich selbst das Labyrinth bauen, aus dem sie dann einen Ausweg suchen". Grundlage jedes Werkes ist ein jeweils anderer Formzwang, der sich wie eine Spielregel durch den ganzen Text zieht - und der, so die Hoffnung der Autoren, sie zwar einerseits einengt, sie aber durch die knifflige formale Aufgaben zugleich von sprachlichen Automatismen befreit und ihnen dadurch neue Ausdrucksfreiheit beschert. Georges Perec schaffte es etwa in seiner Kriminalromanpersiflage "La disparition", knapp 400 Seiten lang um den Vokal "e" herumzuformulieren und gleichzeitig das Verschwinden an sich zum zentralen Thema des Buches zu machen. Und Raymond Queneau erzählt in seinen "Exercices de style" eine banale Szene in einem Pariser Bus in 99 stilistischen Variationen, anagrammatisch, alliterierend, in dahinplauderndem Bayerisch oder als amtliches Schreiben. Perec und Queneau, zwei der Gründerfiguren, kennt man hierzulande, Italo Calvino und Oskar Pastior vielleicht auch noch, die meisten der Oulipo-Autoren aber wurden vergessen oder waren auf deutsch überhaupt noch nie zu lesen.

Der Zürcher Diaphanes-Verlag, man möge seine Mitarbeiter mit libyschem Lorbeer bekränzen und mit nubischen Ölen salben, bringt nun in wunderschönen Ausgaben einige unbekannte oder verschwundene Oulipo-Werke heraus (Diaphanes, jeweils 10 Euro). Wer derselben Meinung ist, wie jener französische Kritiker, der mal wütend schrieb, Oulipo-Texte seien nichts als stilistische Selbstbefriedigung - voilà, "Die Lust an sich" erzählt in 61 Quickie-kurzen Miniaturen, wie sich Menschen jeweils mit sich selbst vergnügen. Der Amerikaner Harry Mathews (unser Bild) lässt jede seiner autoerotischen Szenen an einem anderen Ort spielen, und seine sehr zielstrebigen Protagonisten jeweils eine andere Technik anwenden - beeindruckend und ziemlich inspirierend, auf wie viele Arten und Unarten man zum immer gleichen Ziel gelangen kann. Von Mathews stammt auch das zweite Büchlein, "Der Obstgarten - Erinnerungen an Georges Perec", eine Hommage aus sprachlichen Polaroids, jeweils beginnend mit dem Halbsatz "Ich erinnere mich, wie Georges Perec ...", Gedächtnissnapshots, die das Gesamtbild eines so liebenswerten wie rätselhaften Mannes ergeben, energiegeladen, melancholisch, saukomisch.

Perec, dessen Mutter in Auschwitz ermordet wurde, schrieb mal über seinen ästhetischen Formzwang: "Man rettet sich manchmal, indem man spielt." Die Kunst als Rettung, wortwörtlich - das ist das Thema des dritten kleinen Buchs, "Leonardo in Dora". François Le Lionnais, neben Queneau der eigentliche Gründer der Oulipo-Vereinigung, war am Ende des Zweiten Weltkrieges im KZ Mittelbau-Dora interniert, wo er mithelfen musste, die V2 zu bauen. Le Lionnais beschreibt, wie er sich während der mörderischen Arbeitstage berühmte Gemälde imaginierte, so detailgetreu, dass es ihm gelang, immer wieder momentweise aus der Grausamkeit des Lageralltags in Ruisdaels "Dünenlandschaft mit Eseltreiber" oder andere Bildlandschaften zu verschwinden. Ein unglaublicher Text, an dessen Rändern mehrfach die bestialische Grausamkeit des Vernichtungslagers aufscheint, in dessen stiller Mitte aber die rettende Schönheit und Kraft der Kunst steht.

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SZ vom 03.02.2018
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