Süddeutsche Zeitung

Literatur-Nobelpreis-Rede: Mario Vargas Llosa:Literatur als Liebesakt

Erhebliche Mengen an Pathos: Mario Vargas Llosa hat am Dienstag in Stockholm keine gute Rede gehalten. Das sollte einem frisch zu kürenden Literatur-Nobelpreisträger nicht passieren.

Burkhard Müller

In Mario Vargas Llosa hat die schwedische Akademie einen Autor geehrt, der der alten Idee der Weltliteratur, wie sie dem Nobelpreis zugrunde liegt, direkt und zentral entspricht.

Er ist ein Romancier, geschult an den großen europäischen Vorbildern des 19. Jahrhunderts, und hat sie für jene etwas rückständige Gesellschaft, welcher er selbst angehört, nutzbar gemacht, um deren modernisierende Selbstverständigung voranzutreiben, wobei er seinerseits in die Rolle eines nationalen Führers und Lehrers hineinwuchs. Derartige Preisträger waren in der Vergangenheit zum Beispiel der Ägypter Nagib Machfus und der Nigerianer Wole Soyinka gewesen, in Deutschland wurde noch spät Günter Grass als solcher verstanden.

Die Nobelvorlesung, die Vargas Llosa traditionsgemäß im Stockholmer Börsensaal hielt, bot dann auch wenige Überraschungen. Die Preisträger der vergangenen Jahre - Herta Müller, Le Clézio, Doris Lessing - hatten, möglicherweise ein bisschen sentimental, je einen Kristallisationskern ihrer schriftstellerischen Erfahrung entfaltet: das sorgsam gebügelte Taschentuch, die indianische Wanderpoetin, die Schule im Busch von Simbabwe. Etwas Entsprechendes sucht man in der Rede von Vargas Llosa vergebens.

Die Autoren der Vergangenheit

Stattdessen beschwört er die Autoren der Vergangenheit, an denen er sich geschult hat. Flaubert lehrte ihn die Notwendigkeit der eisernen Disziplin, Sartre, dass Worten Taten sind, Camus und Orwell, dass die Literatur der Humanität verpflichtet sein muss, Cervantes, Dickens, Balzac, Thomas Mann und mehrere weitere, dass Fülle und Ambition für den Romanautor genauso viel Gewicht besitzen wie Stil und Erzählgeschick. Und allen zusammen verdankt er die Erkenntnis, dass man auch unter schlimmsten Umständen die Hoffnung nicht aufgeben darf.

Bedeutet denn die Literatur in Ländern wie dem seinen, Peru, einen unvertretbaren Luxus, solange die Menschen sich nicht einmal die Dinge des täglichen Bedarfs leisten können? Im Gegenteil, sie schürt den Durst nach dem Absoluten und sät produktive Unzufriedenheit, sie macht die Lüge unerträglich.

"Die gute Literatur", sagte der 74-Jährige, "baut Brücken zwischen den unterschiedlichsten Personen, was wir durch sie an Genuss, Leid oder Verblüffung erleben, vereint uns unabhängig von Sprachen, Glaubensvorstellungen, Bräuchen, Gewohnheiten und Vorurteilen, die uns trennen. Wenn der weiße Wal Kapitän Ahab ins Meer hinabzieht, wird jeder Leser ergriffen sein, ob in Tokio, Lima oder Timbuktu. Wenn Emma Bovary das Arsen schluckt, Anna Karenina sich vor den Zug wirft oder Julien Sorel das Schafott besteigt (...), erschaudert der Leser, ob er an Buddha, Konfuzius, Jesus Christus, Allah glaubt oder Agnostiker ist, ob er Anzug und Krawatte, Djellaba, Kimono oder Pluderhosen trägt."

Das Offensichtlichste

Das wäre, wenn es auch nicht in jeder Hinsicht zutrifft, jedenfalls bestimmt wünschenswert; und doch klingt es ein wenig enttäuschend, wenn der Geehrte unter Einsatz erheblicher Mengen an Pathos der Literatur nur das Offensichtlichste und Allgemeinste nachzurühmen weiß.

Einen unmittelbaren Zusammenhang sieht er zwischen Literatur und liberaler Demokratie am Werke, zu deren Durchsetzung und Verteidigung er aufruft, damit nicht eine neue Barbarei Fuß fasse.

Ausdrücklich noch einmal sagt Vargas Llosa dem Marxismus ab, der Verirrung seiner unreifen Jugend, rühmt die Fortschritte in Lateinamerika und verdammt lediglich die Entwicklung in den linken Ländern Kuba, Venezuela, Bolivien und Nicaragua. Dass in allen von ihnen außer Kuba die Regierung demokratisch gewählt wurde, beirrt ihn nicht; "lachhafte populistische Pseudodemokratien" nennt er sie.

Zugegeben, die Nobelvorlesung ist nicht der Ort, um originelle Thesen zu entwickeln, sondern es wird hier jeder versuchen, das Seinige in einen alten, weiten Rahmen zu stellen. Dennoch gibt es hier wenig, was nicht ein anderer als Vargas Llosa geradeso gut hätte sagen können. Selbst das Persönliche erscheint konfektioniert: "Als Kind träumte ich davon, eines Tages nach Paris zu reisen, denn die französische Literatur übte einen solchen Zauber auf mich aus..." Wem wäre es anders ergangen?

"Peru trage ich tief in mir, weil ich dort geboren, aufgezogen, geformt wurde und dort Kindheits- und Jugenderfahrungen machte, die meine Persönlichkeit prägten, meine Berufung weckten, und weil ich dort liebte, hasste, schwärmte, litt und träumte." Aber wen hasste er, woran litt er? Dazu äußert sich der Preisträger leider nicht.

Dem Mangel an Spezifika, den er offenbar doch verspürt, sucht er durch übertriebene Emphase aufzuhelfen; das Schreiben eines Romans bezeichnet er als Erfahrung, "die mich erfüllt und taumeln lässt wie ein über Tage, Wochen und Monate andauernder Liebesakt mit der geliebten Frau." Eine Vorstellung, die nicht angenehm berührt und die man ihm nicht abnimmt.

Nein, Mario Vargas Llosa hat am Dienstag in Stockholm keine gute Rede gehalten. Er glänzte durch Verwechselbarkeit. Das sollte einem Literatur-Nobelpreisträger, selbst wo er das große Ganze ins Auge fasst, nicht passieren.

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Quelle:
SZ vom 09.12.2010/rus
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