Literatur-Nobelpreis für Le Clézio:Die Gefahr der Verklärung

Die Sehnsucht nach dem Heilen und Unverstellten hat Jean-Marie Gustave Le Clézio zum Wanderer zwischen den Welten gemacht. Tragisch nur, dass er trotzdem Eurozentriker geblieben ist.

Alex Rühle

Die Entscheidung hat etwas Schales, man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Stockholmer Jury einmal mehr einen strategischen Kompromiss eingegangen ist.

Literatur-Nobelpreis für Le Clézio: Dem Unbekannten entgegen: der diesjährige Nobelpreisträger für Literatur Jean-Marie Gustave Le Clézio.

Dem Unbekannten entgegen: der diesjährige Nobelpreisträger für Literatur Jean-Marie Gustave Le Clézio.

(Foto: Foto: Reuters)

In der vergangenen Woche erklärte Horace Engdahl, seit Jahren Generalsekretär der Jury und mehr und mehr deren peinliches Faktotum, dass amerikanische Autoren in ihren Texten generell kein Nobelpreisniveau erreichten, was daran läge, dass die USA nun mal zu isoliert seien. Man komme nicht umhin, anzuerkennen, dass Europa immer noch das "Zentrum der literarischen Welt" sei. Von den letzten zehn Nobelpreisträgern für Literatur sind sieben Europäer.

Jean-Marie Gustave Le Clézio stammt ebenfalls aus Europa, schreibt aber in all seinen Texten gerade gegen den von Engdahl behaupteten Eurozentrismus an und ist seiner Biographie nach eher Weltbürger als Franzose.

So könnte man sagen, die Jury habe Engdahl geholfen, sein Gesicht zu wahren und gleichzeitig zu verstehen gegeben, dass sie doch mitbekommen hat, dass seit Flaubert und Jane Austen Erstaunliches passiert ist in der Welt der Literatur.

In der Begründung heißt es denn auch so passgenau wie politisch korrekt, Le Clézio sei geehrt worden als "Verfasser des Aufbruchs, des poetischen Abenteuers und der sinnlichen Ekstase, als Erforscher einer Menschlichkeit außerhalb und unterhalb der herrschenden Zivilisation".

Als Le Clézio 1980 gebeten wurde, sich für ein Lexikon französischer Gegenwartsautoren selbst zu porträtieren, schickte er als Antwort eine Frage ein: "Wie viele Wörter muss ich noch schreiben, bis ich eines Tages jenes helle und klare Licht von damals wiederfinde, als ich in der Kabine eines Frachters, der mich dem Unbekannten entgegentrug, mit einem dicken Bleistift in großen Lettern auf ein Blatt Papier schrieb: WANN REISEN SIE AB, MONSIEUR AWLB?"

Sehnsucht nach dem Anderen

Dem Unbekannten entgegen: Den reisenden Herrn mit dem merkwürdigen Namen erfand Le Clézio 1946, im Alter von sechs Jahren, als er erstmals zu seinen Verwandten in Afrika fuhr.

Seither, so kann man verkürzt sagen, war Le Clézio unterwegs, immer mit dieser Sehnsucht nach dem anderen Licht, durchquerte Wüsten und Vulkaninseln, lebte bei afrikanischen Nomaden und Indianerstämmen oder machte sich auf Spurensuche nach seinem Großvater, der irgendwo im Indischen Ozean verschollen ist.

Heimat, so schrieb Ernst Bloch, sei "etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war." Le Clézio weiß in den stärkeren seiner Werke darum, dass er das Licht, nach dem er sich seit frühesten Jahren sehnt, nicht finden wird, dass es immer utopischer Fluchtpunkt bleiben muss.

Das Erzählen selbst war ihm dieses Licht: "Das Wichtigste auf Erden ist es, Geschichten zu erzählen." Ein Geschichtenerzähler, das trifft es besser als Romancier, vor allem seine frühen, an der Avantgarde der sechziger Jahre geschulten Texte sind Fragmente, Mischformen, Bricolage, wie man im philosophischen Paris jener Jahre gesagt hätte. Novelle und Essay, Erzählung und anthropologisches Feldbuch - da man nie wusste, worunter diese merkwürdig wuchernden Texte zu kategorisieren sind, nannte man's Roman.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, wann seine Schriften in traurigen Tropenkitsch abgleiten.

Die Gefahr der Verklärung

"La guerre" und "Les géants", zwei seiner frühen Texte, sind schon Kriegserklärungen an die Industriegesellschaft, an all das Zuviel an Gestank und Waren unter kaltem Neonlicht, riesige Fresken, in denen die Städte des Westens wie zerstörerische Maschinen vibrieren.

Auf die Frage, ob er sich als politischer Schriftsteller sehe, sagte er damals halb entsetzt, er habe nur die Welt noch einmal erfinden wollen, eigentlich wolle er einzig sehen, wie es auf der anderen Seite des Hügels aussieht.

Mit "Haï" begab er sich 1971 erstmals auf diese andere Seite, in eine ferne bessere Welt, nach Panama, zu einem Indianerstamm. In einer Art Expeditionstagebuch, ergänzt mit eigenen Illustrationen, erzählt er darin von einer Welt, in der der Mensch noch Teil eines Großen, Ganzen ist, ja in der er noch in der Lage zu mystischer Verschmelzung mit der Natur zu sein scheint.

Seither hat Le Clézio mehr als dreißig Bücher veröffentlicht, darunter Erzählungen, Romane, Essays, und zwei Übersetzungen indischer Mythologie.

Für "Le Désert" erhielt er 1980 den Preis der Französischen Akademie. In dem Roman, in dem er das freie Leben der Tuareg-Nomaden gegen den angsterfüllten Alltag illegaler nordafrikanischer Einwanderer in verelendeten Banlieues schneidet, verschränken sich seine anthropologische Neugier und das literarische Fernweh, seine Fähigkeit zu großer Naturbeschreibung und sein kühler Blick auf eine durchrationalisierte Welt vielleicht am geglücktesten.

Während die Philosophen seiner Generation in Paris blieben, um dort gegen den Logo- und den Eurozentrismus gleichermaßen anzuschreiben, kommentierte er ebendiese Verwurzelung mit leisem Spott, brach selbst in die Welt auf und wurde zum Nomaden, mehr noch als Bruce Chatwin, was vielleicht auch daher kommt, dass bretonisches, mauretanisches, mexikanisches Blut in seinen Adern fließt. Viel stärker als Chatwin geht er dabei aber seiner eigenen Sehnsucht nach dem Anderen auf den Leim.

Trauriger Tropenkitsch

"Glück", so schreibt er in seinem Roman "Revolutionen", "Glück wurde allein durch den Zauber des Meeres, des Himmels und der Natur hervorgerufen, ohne dass eine Revolution dazu nötig war."

Der Satz verrät etwas von den großen Gefahren dieses Schreibens. Letzten Endes blickt Le Clézio oftmals selber mit eurozentrischem Blick auf all die Gegenden, wenn er in seiner Sehnsucht nach dem Heilen, Unverstellten, nach dem anderen Licht diese Landschaften zu Paradiesen verklärt.

Das ist schon angelegt in "Haï", wo er selber schreibt: "Letzten Endes erzählen diese Seiten, die von Menschen handeln sollen, deren große Tugend es ist, unentdeckt und stumm zu sein, am Ende nur von deren Autor." Stimmt wohl. Tragisch nur, wenn man das vergisst.

In Büchern wie dem späten Roman "Ein Ort fernab der Welt" beschreibt er Mauritius hemmungslos als harmonisches Paradies voller Barrakudas und sinnlicher Frauen, der Text trägt schwer an schwülen Sentenzen, die Adjektive wuchern wie immergrüne Schlingpflanzen. "Es ist eine endlose Nacht, jeder Augenblick verschmilzt mit dem nächsten", so klingt das dann am laufenden Band. Gleichzeitig macht gerade dieser traurige Tropenkitsch viele seiner Bücher so eingängig und erfolgreich.

Als Le Clézio 1994 von den Lesern der Zeitschrift Lire zum besten französischsprachigen Schriftsteller aller Zeiten gewählt wurde, sagte er, Julien Gracq sei auf jeden Fall besser als er selbst. Ausgerechnet Gracq! Der sagte mal sarkastisch, er werde nie den Nobelpreis bekommen, da hätte er schon simplere Bücher schreiben müssen.

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