Roman von Karina Sainz Borgo:"Jeder Bewohner Venezuelas ist zwei- oder dreimal gekidnappt worden"

Karina Sainz Borgo

"Unsere Generation ist in einer demokratischen Welt aufgewachsen, die zu funktionieren schien": Autorin Karina Sainz Borgo.

(Foto: jeosm.com)

Ein Gespräch mit der venezolanischen Journalistin Karina Sainz Borgo, die mit "Nacht in Caracas" einen Roman über die anhaltende Krise in ihrem Heimatland geschrieben hat.

Interview von Juliane Liebert

Die Krise in Venezuela währt nun schon Jahre, das Land befindet sich ständig mitten im Kollaps. Die Journalistin Karina Sainz Borgo ist vor dreizehn Jahren nach Spanien emigriert. In ihrem Roman "Nacht in Caracas" (S. Fischer) erzählt sie von dem abgeschotteten Land.

SZ: Frau Sainz Borgo, wie geht es jungen Menschen in Venezuela dieser Tage?

Karina Sainz Borgo: Die meisten jungen Menschen sind gegangen. Aber auch junge Erwachsene, Menschen, die einen Job hatten. Es ist schwierig, an einem Ort zu leben, wo du dir im Alltag deines Lebens nicht sicher sein kannst.

Ihre Protagonistin zieht sich im Laufe des Buches immer weiter zurück. Ist das Gefühl des langsam Eingeschlossenwerdens auch ein gesellschaftliches?

Wenn du an einem sehr gewalttätigen Ort lebst, versuchst du, dich zu schützen. Also isolierst du dich. Wenn es Nacht wird in Venezuela, gehen die Menschen nicht mehr auf die Straße, da sie Angst haben, überfallen oder getötet oder entführt zu werden. Große Städte sind jetzt nachts wie Geisterstädte.

Die Protagonistin findet Frieden im Lesen, aber dann werden ihr sogar ihre Bücher genommen.

Sie arbeitet mit Büchern. Die Leute, die ihre Wohnung besetzen und ihr alles wegnehmen, zerstören ihre Bücher, wie um zu zeigen: Nicht mal das lassen wir dir. "Du willst deine Bücher zurück? Schau, was wir mit deinen Büchern machen." Ich wollte zeigen, dass Kultur, Geschichte, Erinnerungen in einer Gesellschaft, in der es nur noch ums Überleben geht, nicht mehr wichtig sind. Es ist eine Gesellschaft, in der jeder seinen eigenen Vorteil auf Kosten eines anderen zu finden versucht. Auf Kosten der Tragödie eines anderen überlebt.

Man hört, dass sogar die Menschen, die geflohen sind, lange misstrauisch bleiben, allen gegenüber.

Das ist mir auch passiert. Ich kam 2006 in Spanien an. Ich ging aus, eines Abends, in Madrid. Spanier gehen lange aus, die ganze Nacht. Wir trennten uns gegen vier Uhr morgens, und ich lief eine lange, einsame Straße entlang. Plötzlich sah ich eine Gruppe junger Menschen, die mir entgegenkamen. Sie waren zu dritt. Ich sah sie, drehte um und begann zu rennen. Dann hielt ich an. Ich dachte, was mache ich denn? Oder an Geldautomaten. Das ist ein Ort, an dem du in Venezuela überfallen oder gekidnappt werden kannst. Wenn jemand mich anspricht, wenn ich vor einer Bank bin, schreie ich immer noch auf. Jeder Bewohner Venezuelas ist zwei- oder dreimal gekidnappt worden.

Wurden Sie auch schon gekidnappt?

Ja. Einmal. Es war furchtbar. Aber im Vergleich dazu, dass es Freunden von mir drei- oder viermal geschah, hatte ich Glück.

Wie ist das passiert?

Es ist normal. Passiert ständig. Wegen der Wirtschaftskrise gab es einen Zeitpunkt, wo das Lösungsgeld, dass die Menschen aufbringen mussten, um freigelassen zu werden, so hoch war, dass Leute anfingen, darauf zu sparen. Damit im Fall, dass sie entführt werden, genug Geld da ist. Stellen Sie sich das vor! Ein Universitätsprofessor verdient drei oder vier Euro im Monat, wegen der Inflation. Geld hat keinen Wert. Auch die Charaktere im Buch haben alles verloren. Am Ende verliert meine Protagonistin sogar ihren Namen.

"Jetzt sehen wir, wie die Welt vom Populismus bedroht wird"

Sie verliert auch ihre Nationalität.

Das ist für sie das Schlimmste. Als sie in Spanien ankommt, sieht sie sich im Spiegel an, und sie sagt zu sich: Ich komme nicht von einem anderen Ort, ich komme aus einer anderen Zeit.

Vom literarischen Standpunkt gesehen: Wie schafft man es, eine Abfolge furchtbarer Ereignisse zu beschreiben, ohne dass man selbst oder der Leser dabei taub wird?

Ich habe versucht, ein literarisches Buch zu schreiben. In dem Gewalt und Tod eine große Rolle spielen, aber auch Schönheit. Venezuela ist sehr schön, eine wunderschöne Landschaft, die eine grausame Logik verbirgt. Ich bin in diesem Umfeld aufgewachsen, und es gelingt mir nicht, das loszuwerden: dass Gewalt etwas Normales ist. Dabei ist sie das nicht.

Wie geht man als Autorin damit um, über ein Land zu schreiben, das man nicht mehr betreten kann?

Ich musste mich sehr weit von dem Ort entfernen, an dem ich aufgewachsen bin, um über die schmerzhaften Dinge zu schreiben. Die ersten Jahre fühlte ich mich schuldig, weil ich nicht da war. Ich dachte, wenn ich nicht dort bin, kann ich nicht darüber schreiben. Ich lebe seit 13 Jahren in Spanien, mein Vater, mein Großvater kommen ursprünglich von dort. Sie waren Spanier, die nach dem Bürgerkrieg das Land verließen, weil sie sonst getötet worden wären. Spanien wurde in unserem Haus nicht erwähnt.

Mit keinem Wort?

Mit keinem Wort. Erst als ich dort ankam, entdeckte ich meine Familiengeschichte. Ihnen war das Gleiche passiert wie mir. 80 Jahre später überquerte ich wieder das Meer, nur in die andere Richtung. Und auch sie konnten nicht zurücksehen.

Paradox.

Wir reden heute viel von der Flüchtlingskrise in Europa, aber in karibischen Ländern wie Venezuela oder Kolumbien haben wir so viele Menschen aufgenommen, damals. Dadurch sind die Venezolaner ein sehr durchmischtes Volk, der Durchschnittsbürger hat einen italienischen Großvater, eine portugiesische Großtante. Dass ist auch im Buch wichtig: Du kannst nicht entscheiden, wo du lebst und wer du dort wirst.

Im Buch geht es viel darum, wie der Mensch in extremen Situationen zum Feind des Menschen wird. Haben Sie auch Hoffnung gesehen?

Wenn die Umstände grausam sind, kümmerst du dich nur um dich selbst. Das ist in der Geschichte der unterschiedlichsten Länder passiert und jetzt eben in Venezuela. Ich habe diese Dinge gesehen. Im Buch will die Protagonistin Medizin, die sie nicht mehr braucht, an zwei Mädchen verschenken, deren Mutter krank ist. Die aber fühlen sich so bedroht, dass sie sie nicht annehmen können und leugnen, eine Mutter zu haben. Sind sie schuldig? Oder bloß verzweifelt? Unsere Generation - ich nehme an, Sie sind so alt wie ich?

Ungefähr.

Unsere Generation ist in einer demokratischen Welt aufgewachsen, die zu funktionieren schien. Und jetzt sehen wir, wie diese Welt vom Populismus bedroht wird.

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