Süddeutsche Zeitung

Literatur:Mut zu Metamorphosen

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Sasha Marianna Salzmann lässt sich nicht auf eine Rolle festlegen - die Hausautorin des Berliner Gorki Theaters stellt nun in München ihren Debütroman "Außer sich" vor, der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis steht

Von Anna Steinbauer

Manche Figuren beschäftigen einen Schriftsteller über ein Werk hinaus. Der Transmann Katho ist für Sasha Marianna Salzmann so ein Geschöpf. "Mit bestimmten Figuren bin ich fertig, mit anderen gehe ich weiter", sagt die Hausautorin des Maxim-Gorki-Theaters in Berlin. In ihrem Stück "Meteoriten", das im April 2016 Premiere hatte, starb der Mann, der sich im Körper einer Frau gefangen fühlte, einen tragischen Bühnentod. Nun taucht er wieder auf - im Debütroman "Außer sich" der 1985 in Wolgograd geborenen und 1995 nach Deutschland übersiedelten Salzmann. Und diesmal sogar in einer Schlüsselfunktion für die Protagonistin Ali - als Geliebter und Katalysator für ihre Metamorphose. "Ich habe mich sehr gefreut, Katho wiederzufinden und ihn auszuarbeiten", so die Autorin. "Ich war unzufrieden, dass er sterben musste".

Der Roman-Katho ist Tänzer und hat ein Grünfink-Tattoo. Wie der seltene Singvogel, der in Istanbul gejagt und in verhüllte Käfige gesteckt wird, um die Menschen mit seinem Gesang zu erfreuen, ist auch Kathos Leben in der türkischen Großstadt bedroht. "Katho tauchte plötzlich wieder auf, weil ich in Istanbul in der Transfrauencommunity unterwegs war", sagt Salzmann. "Ich war umgeben von Existenzen, die ebenso gefährdet sind wie er." Die Autorin ist derzeit eine der angesagten Dramatikerinnen und Kulturschaffenden, die sich mit postmigrantischen, transnationalen und queeren Positionen beschäftigt. "Außer sich" steht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2017 und ist für den aspekte-Literaturpreis nominiert. Ein Teil der kunstvoll gewebten und zeitlich ineinander verschachtelten Romanhandlung spielt in Istanbul. Eigentlich ist die Stadt heimliche Protagonistin, so Salzmann, die seit 2012 abwechselnd am Bosporus und in Berlin lebt: exotisch, widersprüchlich, verletzlich, verrucht. Die Hauptfigur Ali fährt nach Istanbul, um dort nach Anton zu suchen, ihrem Zwillingsbruder, Doppelgänger und zweiten Ich. Hier wird sie nicht nur mit den Protesten um den Gezi-Park konfrontiert, sondern vor allem auch mit sich selbst und Fragen, die ihre eigene Identität, Familie, Herkunft und Geschlecht betreffen. Die Stadt als Drehscheibe zwischen West und Ost, Asien und Europa wird zum Kondensationspunkt für Ali und gleichzeitig zum Ort der Transformation. In Istanbul ist alles möglich - auch die Verwandlung von Ali zu Anton.

Am Gorki leitete Salzmann von 2013 bis 2015 die wohl spannendste Experimentierbühne Deutschlands, das "studioЯ", das sich selbst als "Kunstasyl für marginalisierte Themen und Denkweisen und als Plattform für Diskussionen und Schaffensprozesse" versteht. Sie war Mitherausgeberin des Kulturmagazins freitext und gründete 2014 zusammen mit Maxi Obexer das "Neue Institut für Dramatisches Schreiben". Dennoch fühlt sich Salzmann am Theater zu Hause. Der Roman sei mehr ein Prozess gewesen, in den sie hineingefallen sei, als sie 2012 mit einem Stipendium der Kulturakademie Tarabya nach Istanbul fuhr. "Ich ging dahin und dann kam Prosa raus", so die Autorin, der der Buchmarkt bisher fremd war. Die 32-Jährige ist Russin, Jüdin, Deutsche, Wahltürkin und spricht mehrere Sprachen fließend. Muttersprache habe sie keine, dafür ein gesundes Misstrauen gegenüber jeglicher Sprache und so die zum Schreiben nötige Distanz, sagt Salzmann. Jede Sprache besitze eine andere Qualität: "Deutsch eignet sich gut für die Bühne, Prosa schreibe ich oftmals auf Russisch, und für Gedichte ist Englisch super."

Wer bin ich, wohin gehöre ich, was bestimmt mich? Das sind die treibenden Fragen, die Salzmann im Roman jenseits aller konventionellen Zuschreibungen verhandelt. Kaleidoskopartig legen sich hier die Familienchronik eines Jahrhunderts und die aktuelle politische Situation in der Türkei übereinander, männliche und weibliche Perspektiven verschwimmen und verdichten sich zu einem vielschichtigen Textgebilde. Das Prinzip der Genealogie dient der Autorin hierbei als Erzählstruktur. Ein zentraler Moment im Roman ist die Erkenntnis Alis, nicht weiterzukommen, ohne sich mit der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen: "Anton ist vor der Geschichte davongelaufen. Ali befragt und misstraut. Sie weiß, dass Familiengeschichten immer Lügen sind und ertappt sich bei dem Versuch hinzuschauen, selbst in einem Zirkus von Narrativen", sagt Salzmann. Ein geschicktes Stilmittel der Autorin ist hierbei der Perspektivenwechsel von der dritten Person zu einem Erzähl-Ich, was den Zustand des "Außer-sich-seins" als Erzählstrategie hervorhebt. Nur indem Ali einen Schritt aus sich heraus macht, ihre eigene Geschichte von allen Seiten betrachtet, kann sie zu sich selbst finden.

Dazu gehören auch die Reise und die Begegnung mit Katho, durch den sie erst erfährt, wer sie überhaupt ist. Von Russland nach Deutschland über die Türkei verfolgt der Leser die Migrationsbewegungen der Figuren. "Wenn man ein Land hat, kann man es nicht verlassen. Man schleppt es immer mit", heißt es im Buch. Und Salzmann selbst? "Ich habe keine Länder, nur meine Bücher im Gepäck, meine Freunde im Kopf und meine Mutter am Handy."

Sasha Marianna Salzmann, Mi., 27. Sep., 19.30 Uhr, Literaturhaus, Salvatorplatz 1 ( die Lesung bei Moths am Do., 21. Sep, wurde kurzfristig wg. Krankheit abgesagt)

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Quelle:
SZ vom 21.09.2017
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