Zu den Doppelgängerfiguren, die in seinem Werk auftauchen, gehört Peter Handke selbst. In ihm gibt es, nunmehr schon seit Jahrzehnten, zwei Autoren, die einander zum Verwechseln ähnlich sehen, einander zuarbeiten, miteinander rivalisieren, hin und wieder über einander den Kopf schütteln, sich voneinander entfernen, aber nie aus den Augen verlieren. Der eine verfasst, auf Reisen oder an seinem jeweiligen Wohnort, Notizen, Aufzeichnungen, Kommentare zu Lektüren, Einfälle, und macht daraus irgendwann ein Buch. Der andere arbeitet derweil in immer neuen Anläufen daran, ein Erzähler zu werden und hat es dabei nicht leicht, weil er kein Geschichtenerfinder ist.
So nimmt er, was ihm seit der Kindheit andere erzählt haben, was er im Kino gesehen, in Bluesballaden und Rocksongs gehört hat, und nicht zuletzt den Stoff des eigenen Lebens, um es in die Form von Geschichten zu bringen und so zum Erzähler zu werden. Lange Zeit hat er, etwa seit 1989, "Versuche" über alles mögliche geschrieben, die Jukebox, die Müdigkeit, den geglückten Tag oder den stillen Ort, die trotz ihres Titels nicht Essays waren, sondern Versuche des Erzählers, seinen Doppelgänger in den Helden einer Geschichte zu verwandeln.
"Man sah den lichten Sommer in so mannigfacher Farbe nie", heißt es bei Wolfram von Eschenbach
Peter Handke geht inzwischen auf seinen 75. Geburtstag zu. An diesem Montag erscheint nach längerer Zeit wieder einer seiner epischen Großversuche. Er heißt "Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere". Wer darin nach Verbindungslinien zu seinen Vorläufern und nach dem Lebensstoff seines Autors sucht, wird rasch fündig. In dem Buch "Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos" (2002) war ebenfalls eine weibliche Heldin, die im Finanzsektor arbeitende "Bankfrau", zu einer Abenteuerreise in die spanische Hochebene aufgebrochen und war auf der Suche nach ihrer Tochter. Nun ist die junge Obstdiebin auf der Suche nach ihrer Mutter unterwegs, zwischen den nördlichen Ausläufern der Île de France und einem - freilich niedrigeren - Hochplateau in der angrenzenden Picardie.
Aber ehe die junge Frau auftaucht, bricht der Erzähler aus seinem Haus in der "Niemandsbucht" Richtung Picardie auf, an einem Sommertag im August, nachdem er von einer Biene gestochen worden ist. Der Autor hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er seine Niemandsbucht um das Haus in Chaville südwestlich von Paris herum entworfen hat, in dem er seit fast dreißig Jahren lebt. Und in Interviews hat er berichtet, er habe vor einigen Jahren ein weiteren Haus erworben, in der Picardie.
Das Buch "Mein Jahr in der Niemandsbucht"(1994) firmierte im Untertitel als "ein Märchen aus neueren Zeiten", und "Der Bildverlust" gab sich im Untertitel offenkundig nur deshalb als "Roman" aus, um zum "Don Quijote" des Miguel de Cervantes hinüber zu grüßen, dem er sein Motto verdankte: "Vielleicht haben die Ritterschaft und die Verzauberungen heutzutage andere Wege zu nehmen als bei den Alten". Mit dem landläufigen Roman, seinen Plots, seinen Handlungsmustern hat der Schriftsteller Peter Handke seit je nichts zu schaffen. Und vom James Joyce des "Ulysses" wie vom "Mann ohne Eigenschaften" Robert Musils hat Handke sich mit Grausen abgewandt, als er das "epische" Erzählen zu seinem Ideal und das Mittelalter zu seiner Wahlheimat erklärte. Früh tauchte dabei, etwa in der "Niemandsbucht", die Hoffnung auf eine Wiederkehr des Wolfram von Eschenbach als Autor der Gegenwart auf. Er ist nun der wichtigste Schirmherr der "Obstdiebin", die sich in Handkes letztem Aufzeichnungsband "Vor der Baumschattenwand nachts" als Projekt eines "letzten Epos" findet.
Wolfram von Eschenbach erzählt von Ereignissen, die in Frankreich stattfinden,und im "Willehalm", dem Handke eines seiner Motti entnimmt ("Man gesach den liehten summer in sô maniger varwe nie", "Man sah den lichten Sommer in so mannigfacher Farbe nie"), begegnen sich Christen und Muslime, wie auf dieser kurzen, nur wenigen Tage dauernden Reise in die Picardie, der alten Kornkammer der französischen Könige, deren Name in den Ohren der Obstdiebin etwas "Ritterliches", "Chevaleresques" hat.
Nach etwa 150 Seiten verlässt der Erzähler als leibhaftige Figur seine Geschichte, um nur noch Begleiter der Obstdiebin zu sein, die kein Obst stiehlt, sondern nur einzelne Früchte, also allenfalls Mundraub begeht und nur dem Namen nach eine Diebin ist. Sie ist eine Art Wünschelrutengängerin, wo sie eine Frucht pflückt, auch eine Lesefrucht, findet der Erzähler Berichtenswertes. Was aber ist erzählenswert? In einem Epos vor allem Abenteuer, die sich episodisch aneinander reihen, wenn der Held erst einmal aufgebrochen ist. Doch wo gibt es die, in der Jetztzeit, beim Wandern durch die industrialisierte Provinz, in den Regionalzügen, vor den Supermärkten, in den Kebab-Imbissen, im Niemandsland zwischen Metropole und Provinz?
Nur in Form der Verwandlung von Alltagsbegebenheiten in Prüfungen, Gefahrenmomente, vermiedene Katastrophen. "Verwandlung" ist das Schlüsselwort in Handkes Projekt eines neuen epischen Erzählens. Und so gehören zu den schönsten Passagen des Aufbruchs die Seiten, auf denen sich die Supermarktkassiererin auf dem Spielplatz am Bahnhof der Niemandbucht in eine epiphanische Erscheinung verwandelt.
Ihnen stehen die Schrecksekunden und Gefahrenmomente gegenüber, das wichtigste Organ ihrer Wahrnehmung ist das Gehör. Ein Tritt auf dröhnende Kanalisationsplatten ruft die Vorstellung automatisch aus dem Boden schießender Sperrvorrichtungen hervor, das Krachen im Regionalzug, der plötzlich auf freiem Feld stoppt, lässt Anschlagsangst über die Passagiere gleiten, in der Gratiszeitung taucht "der Mörder des greisen Priesters in der Kirche bei Rouen" auf, angesichts verschleierter junger Frauen muss der Erzähler einen Wutanfall in sich unterdrücken. Und der todessüchtige junge Pizzabote, der sich eine Zeitlang der Obstdiebin auf ihrer Wanderung anschließt, gerät momentweise in eine Panik und ein Zwielicht, die ununterscheidbar werden lassen, ob in ihm ein Selbstmordattentäter oder nur ein Selbstmörder steckt. Die Reise ins Landesinnere führt auch ins Innere eines vom Terror erschütterten Landes
"Die Sonne ging unter. Ein erster kühler Hauch kam nach dem sommerwarmen Tag daher . . ."
Man kann die Stationen dieses Buches auf der Landkarte verfolgen, es gibt die riesige Uhr am Regionalbahnhof von Cergy-Saint-Christophe, die stehengeblieben ist, um der Zeit der epischen Erzählung den Vortritt zu lassen. Aber nicht der Gehalt der Erzählung ist das Entscheidende, der Weg der Obstdiebin zur Familienzusammenkunft mit der Mutter, dem Vater und dem jüngeren Bruder, die Begegnung mit einem Ungeheuer, das sich als kleiner gallischer Hahn entpuppt, die Rettung einer halbtoten Katze, die Einkehr in ein Totenhaus, eine Herberge, die Teilnahme an der heiligen Messe.
Entscheidend ist der Satzbau, der in Appositionen und Einschüben den Rhythmus des Aufbruchs und Voranschreitens in sich aufnimmt, als eine einzige lange Polemik gegen den "lakonischen" Kurzsatzstil und den Aufstieg des Präsens als Erzähltempus in der Gegenwartsliteratur. Und, auf der anderen Seite, die in Schrift, in Prosa verwandelten Nachbilder, die alle behaupteten Bildverluste dementieren: "Die Sonne ging unter. Ein erster kühler Hauch kam nach dem sommerwarmen Tag daher über die Picardie und das Vexinplateau. Die dunkelnden, da abgeernteten Felder zeigten sich unversehens weiß in weiß von den vorher verborgenen Möwen. Hoch im Zenit, ebenso weiß Wolkenbänder als Schaumstellen im Sand nach dem Zurückfließen einer Meereswelle. Zwei dieser Wölkchen, im Abstand, wurden von einem Strahl der sonst allüberall schon verschwundenen Sonne erfasst, trieben jetzt sacht aufeinander zu und gleißten auf in dem einen Moment, da eins auf das andere traf."
Man findet solche Prosa auch in den Notizheften Handkes. Anders, als der Autor glauben mag, liegt die Stärke dieses wie seiner anderen epischen Großprojekte nicht im weltumspannenden Gestus des Erzählers. Sondern in den Passagen, in denen er seinem Doppelgänger den Vortritt lässt, dem Verfasser von Aufzeichnungen und Meister der Prosa des Augenblicks.