Computer-Poesie:"und kein engel ist schön"

"Theo Lutz/Maschinenpoesie"

Dieses Foto der raumfüllenden Rechenanlage "ER 56" der Standard Elektrik Lorenz (SEL) in Stuttgart-Zuffenhausen entstand um 1960 zu Werbezwecken. Der Computerpoesie-Pionier Theo Lutz war dort tätig, er sitzt hinten mit dem Rücken zum Betrachter am Kommandopult. Die Beschriftungen sind von seiner Hand.

(Foto: DLA Marbach)

Der Informatiker Theo Lutz erzeugte vor sechzig Jahren die ersten deutschen Gedichte aus dem Computer. Sein "Elektronengehirn" feuerte Sätze im Stakkato ab, so lange es die Rechenleistung hergab.

Von Toni Bernhart und Sandra Richter

In der Literatur ist künstliche Intelligenz ein alter Hut, ein Hut mit einem weißen Kaninchen allerdings. Einige Dichter und Denker träumen seit dem 17. Jahrhundert davon, seit nämlich Autoren wie Julius Caesar Scaliger kombinatorische Verse vorlegten und eine im Jahr 1777 erwähnte "poetische Handmühle" mechanisch Oden dichten sollte. Tatsächlich gibt es maschinelle Literatur in deutscher Sprache seit 1959. Mit Hans Magnus Enzensbergers 1974 entworfenem und im Jahr 2000 gebautem "Landsberger Poesieautomaten" gelangte sie später in das Bewusstsein einer größeren Öffentlichkeit. Aber Enzensberger war nicht der Erste.

Theo Lutz heißt der Mann des Jahres 1959. Seine Maschine hört auf den Namen Zuse Z 22. Die Z 22 war der erste, von der Zuse KG Hünfeld in Serie gebaute Röhrenrechner in Westdeutschland. Mit ihm führten Hochschulen, Behörden und große Unternehmen ab 1955 die elektronische Datenverarbeitung ein.

Theo Lutz studierte damals an der Technischen Hochschule, heute Universität Stuttgart. Als Diplomand am Institut für Theorie der Elektrotechnik hatte er Gelegenheit, die hochschuleigene Zuse Z 22 für seine Diplomarbeit über elektrotechnische Netzwerke zu nutzen. In seiner Freizeit war ihm nach einem Umkehrschub: Statistische Modelle, so dachte Lutz, lassen sich nicht nur für die Beschreibung von Prozessen nutzen, sondern umgekehrt auch für die Simulation solcher Prozesse. Sprachliche Strukturen lassen sich mit der Hilfe von Algorithmen also sowohl analysieren als auch herstellen.

Ein Elektronenhirn produziert Literatur? Der Gedanke war damals so provokant wie heute

Die Inspiration dafür entsprang dem studentischen Kulturbetrieb. Lutz schrieb antifaschistische Beiträge für die Theaterbriefe des Kreisjugendrings Esslingen; von 1958 bis 1966 war er Chefredakteur der monatlich erscheinenden Jugendzeitschrift ja und nein. Die linke Zeitschrift kommentierte die politische Entwicklung der noch jungen Bundesrepublik kritisch, aber nicht ohne Humor.

Der Gedanke, ein "Elektronengehirn" zum Dichten zu bringen, war damals so provokant wie heute. Er kehrt die Technikbegeisterung der 1950er-Jahre gegen sich selbst und fragt, was die Maschinen tatsächlich leisten und ob sie mit einem Menschengehirn konkurrieren können.

Darüber hinaus hörte Theo Lutz bei Max Bense Philosophie. Bense, der einflussreiche Theoretiker einer rationalen Moderne, beschäftigte sich seinerseits bereits seit den Vierzigerjahren mit maschineller Kommunikation. Er las über Kybernetik, und im Jahr 1955 lud er den berühmten amerikanischen Kybernetiker Norbert Wiener zum Vortrag an die TH Stuttgart ein.

"Theo Lutz/Maschinenpoesie"

Dieses Foto der raumfüllenden Rechenanlage "ER 56" der Standard Elektrik Lorenz (SEL) in Stuttgart-Zuffenhausen entstand um 1960 zu Werbezwecken. Der Computerpoesie-Pionier Theo Lutz war dort tätig, er sitzt hinten mit dem Rücken zum Betrachter am Kommandopult. Die Beschriftungen sind von seiner Hand.

(Foto: DLA Marbach)

Algorithmen für Kafka

Max Bense und Lutz' Studienfreund Rul Gunzenhäuser, später charismatischer Pionier der Stuttgarter Informatik, wurden im Frühjahr 1959 auf Lutz' Experimente aufmerksam. Bense war begeistert, deckten sich Lutz' Ansätze doch kongenial mit seiner Vision maschineller Poesie. Gunzenhäuser unterstützte Lutz, indem er die erforderlichen Algorithmen mathematisch modellierte und vorschlug, als Ausgangsmaterial dafür Franz Kafkas "Schloss" zu verwenden. Warum er "Das Schloss" empfahl, ist unbekannt. Wahrscheinlich entsprach es einer Idealvorstellung von kanonischer, doch zugleich moderner und vor allem sprachlich reizvoller Literatur.

Theo Lutz machte sich an die Arbeit: Aus dem "Schloss" wurden Verben, Substantive und Adjektive extrahiert, das Sprachmaterial wurde auf Lochkarten kodiert, und Lutz programmierte in der Programmiersprache Fortran die Zuse Z 22 so, dass sie nach wahrscheinlichkeitsmathematischem Zufallsprinzip Wörter auswählen und zu grammatisch sinnvollen Sätzen kombinieren konnte.

Nach wenigen Wochen war die Arbeit abgeschlossen. Lutz druckte den 71 Zeilen langen Text mit einem Fernschreiber in zwei Exemplaren aus. Eines davon übergab er Max Bense. Es liegt heute im Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe. Das andere Exemplar behielt er für sich und nutzte es als Grundlage für die Ausarbeitung der Poeme, die unter dem Titel "Stochastische Texte" in die Literaturgeschichte eingehen sollten. Dieses Blatt (unser Bild) gehört zum Nachlass von Theo Lutz, der an diesem Dienstag am Deutschen Literaturarchiv in Marbach präsentiert wird. Der Nachlass gelangte als Schenkung seiner Erben dorthin, Lutz war im Jahr 2010 gestorben.

Tatsächlich war Lutz 1959 weltweit einer der ersten, denen es gelang, eine Rechenmaschine so zu programmieren, dass sie Texte ausgeben konnte, die aussahen wie Gedichte. Bei diesen "Stochastischen Texten" handelt es sich sehr wahrscheinlich um die ersten maschinell erzeugten Texte dieser Art in deutscher Sprache.

Lutz veröffentlichte den Text in der Form, wie er ursprünglich aus der Maschine kam, nur in Auszügen, die er für die Publikation zudem geringfügig nachbearbeitet hat. Offenbar entsprach der Text in dieser Form eher seiner ästhetischen und literarischen Vorstellung. Der Erstdruck erfolgte im Herbst 1959 in dem von Bense herausgegebenen Periodikum Augenblick, das den bezeichnenden Untertitel "Zeitschrift für Tendenz und Experiment" trug.

Stakkato-Hauptsätze, die expressiv wirken - mehr gab 1959 die Rechenleistung noch nicht her

"Theo Lutz/Maschinenpoesie"

Mit seinen „Stochastischen Texten“ schuf Theo Lutz sehr wahrscheinlich die ersten computergenerierten Gedichte dieser Art in deutscher Sprache.

(Foto: DLA Marbach)

Lutz' Text besteht aus kurzen Hauptsätzen, die alle die Struktur "x ist y" haben. Meist sind die Sätze seriell aneinandergereiht, gelegentlich durch "und", "oder" oder "so gilt" miteinander verbunden. Der Rhythmus wirkt stakkatoartig, die Diktion affirmativ. Grammatisch sind die Sätze richtig. Sinn und Bedeutung des Textes wirken verspielt, dadaistisch, expressiv. Die parataktische Form in tendenziell jambisch drängendem Rhythmus ist auf den vergleichsweise einfachen Algorithmus zurückzuführen, den eine Rechenmaschine im Jahr 1959 bewältigen konnte. Ob es ein öffentliches Echo auf die Publikation gab, ist unbekannt. Es folgte aber ein Jahr danach auf einen anderen Text. 1960 generierte Theo Lutz einen weiteren Zufallstext, diesmal ein Weihnachtsgedicht, das er mit dem Titel "und kein engel ist schön" versah und unter dem passenden Pseudonym "electronus" in der Dezember-Nummer von ja und nein veröffentlichte.

Diesmal gelang die Provokation. In der Januar-Nummer 1961 erschienen Leserinnen- und Leserzuschriften zum Gedicht. Die Meinungen drifteten auseinander. Sie reichten von heftiger Ablehnung bis zu begeisterter Zustimmung.

In seinem Artikel "Ehret eure deutschen Dichter" legt Theo Lutz offen, dass der Dichter ein "Elektronengehirn" namens Zuse sei und stellt sogleich ein weiteres "Originalgedicht in der Handschrift des Dichters" vor. Es ist ein Liebesgedicht von fünf Versen, das mit der Zeile endet: "und ein juengling ist heftig". Dabei tut sich eine Parallele auf: Der britische Mathematiker und Informatikpionier Christopher Strachey hatte 1954 im Umfeld von Alan Turing an der Universität Manchester mithilfe des Universitätsrechners kurze Texte in der Form von englischsprachigen Liebesbriefen generiert. Stracheys Experimente aber waren Lutz mit großer Wahrscheinlichkeit nicht bekannt.

Von der Zahlenmystik zu "stochastischen Texten"

Der Nachlass von Theo Lutz umfasst neben originalen Ausdrucken der "Stochastischen Texte" aufschlussreiche Dokumente zu deren Entstehung, darunter den vollständigen Programmalgorithmus von 1959. Mitschriften von Vorlesungen bei Max Bense, Hefte mit Notizen zur Funktionsweise der Zuse Z 22, Korrespondenzen, Lebensdokumente und Fotos sind ebenso enthalten wie Lutz' Bibliothek mit Handexemplaren eigener Bücher und Schriften, darunter die vollständigen Jahrgänge der Zeitschrift ja und nein von 1958 bis 1966.

"Theo Lutz/Maschinenpoesie"

Theo Lutz (1932-2010) bei der Arbeit am Schreibtisch- hier mal mit der Schreib-, nicht mit der Rechenmaschine. Als Student schrieb der Informatiker für linke Jugendzeitschriften, später arbeitete er bei IBM.

(Foto: DLA Marbach)

Gänzlich unbekannt sind bislang die umfangreichen Materialien aus Lutz' jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem Leben und Werk des Renaissancegelehrten, Zahlenmystikers und Mathematikers Michael Stifel, der um 1487 in Esslingen geboren wurde und 1567 in Jena starb. Auch dieser Komplex ist Teil des Nachlasses. Er enthält das unveröffentlichte Manuskript eines Sachbuchs mit dem Titel "Kollege Stifel" aus dem Jahr 1977.

In den Siebziger-, Achtziger- und Neunzigerjahren erzeugte Lutz weitere Texte maschinell. Er nannte sie "Stochastogramme". Als Grundlagen verwendete er Texte von Goethe, Schiller, Nietzsche, Heine, Rilke, Schwitters und Heidegger. Diese Versuche stießen aber nicht mehr auf öffentliches Interesse.

Stattdessen faszinierte die Theorie: "Künstliche Poesie" nannte Max Bense in seiner "Theorie der Texte" aus dem Jahr 1962, was Theo Lutz programmiert hatte und was ihm künftig vorschwebte. Der französische Elektrotechniker und Philosoph Abraham Moles, der mit Bense befreundet war, sprach von "permutationeller Kunst". Der Linguist Gerhard Stickel hingegen, später Direktor am Mannheimer Institut für deutsche Sprache, machte mit seinen "Autopoemen" auch auf das aufmerksam, was Computer nicht können: Bedeutung erzeugen und wirklich menschlich kommunizieren nämlich.

Am stärksten programmatisch wurde damals die Stochastik in der Musik. Der Komponist Iannis Xenakis stellte unter dem Eindruck seiner Zusammenarbeit mit Le Corbusier und Edgard Varèse beim legendären Philips-Pavillon der Weltausstellung 1958 in Brüssel seine Vorstellung über stochastische Musik in seinem Essay "Musiques formelles" von 1963 vor. Inspiriert war das stochastische Wirklichkeitsverständnis durch die Vorlesungen über probabilistische Logik, die der Mathematiker John von Neumann 1952 am California Institute of Technology gehalten hatte. Nicht nur in der Mathematik, sondern auch in Literatur, Musik und Kunst stießen Neumanns Ideen auf großes Echo.

Theo Lutz selbst arbeitete nach seinem Studium als Mathematiker für den Elektromaschinenhersteller Standard Elektrik Lorenz (SEL) in Stuttgart-Zuffenhausen, dann über zwanzig Jahre lang für IBM. Parallel dazu verfasste er Programmieranleitungen, Fachbücher und Essays über ein Feld, das im klassischen Feuilleton fehl am Platz war, aber trotzdem ein immer größeres Publikum fand: die Information und ihre Wissenschaft, später auch Informatik genannt. Dem Hut der Elektrotechnik und der Mathematik entsprang sie als das neue weiße Kaninchen, dessen Magie die nächsten Jahrzehnte bis heute faszinieren sollte.

Toni Bernhart ist Literaturwissenschaftler, Theaterautor und Regisseur. An der Universität Stuttgart ist er Privatdozent für neuere deutsche Literatur und Leiter des Forschungsprojekts "Quantitative Literaturwissenschaft". Kürzlich erschien sein Buch "Volksschauspiele". Sandra Richter ist Direktorin des Deutschen Literaturarchivs Marbach und Autorin einer "Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur" (2017).

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