Literatur:Inszenierungen eines Idealisten

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Bei einer dreitägigen Konferenz zu Erich Kästner diskutieren Forscher über "Politik und Moral" in dessen Denken und Werk. Sie stoßen dabei auf allerlei Ambivalenzen, nicht nur in manchen unschmeichelhaften Zeilen über Frauen

Von Maxie Römhild und Florian Holler

Als "Onkel für Katzen und Kinder" war Erich Kästner in der Wissenschaft lange verschrien. Populär, satirisch, komisch - so wurde sein Werk beschrieben. "Alles ganz böse Kriterien für Kanonbildung", sagt der Literaturwissenschaftler Sven Hanuschek. Dass Kästners Werk nun wieder verstärkt in den Blickpunkt der Forschung gerät, ist auch Hanuscheks Verdienst. Vor Kurzem gab er Kästners Kriegstagebuch heraus, das "Blaue Buch". Gerade in Hinblick auf dieses Tagebuch stellen sich Fragen zu Politik und Moral in Erich Kästners Werk und Leben mit neuer Virulenz. Literaturwissenschaftler wie Michael Ansel oder Helmuth Kiesel sowie Referenten aus der Philosophie wie Ansgar Lyssy diskutierten darüber bei einer dreitägigen Kästner-Konferenz, die von der Ludwig-Maximilians-Universität München im Lyrik Kabinett ausgerichtet wurde.

In seinem Eröffnungsvortrag fasste Gideon Stiening Kästners ambivalentes Verhältnis zu Politik und Moral zusammen: Zwar ergriff er in seinen Gedichten und Romanen immer wieder Partei für die Benachteiligten und klagte dabei die politischen Verhältnisse an, pflegte dabei aber stets ein "Pathos der Distanz zu politischen Institutionen". Im Mittelpunkt stand für ihn das ethische Verhalten des Individuums. Seine Skepsis gegenüber politischen Ideologien, Institutionen und Parteien war schon zu Zeiten der Weimarer Republik Anlass scharfer Kritik aus dem linken Lager. Walter Benjamin etwa sah in Kästners Werk einen Beweis "linker Melancholie": eine routinierte, sich selbst genügende Gesellschaftskritik, die politisch folgenlos bleibe, da sie es versäume, sich zu positionieren und alternative politische Entwürfe zu skizzieren.

Kästner, so analysierte es auch Markus May, dessen Manuskript in Abwesenheit vorgetragen wurde, sei ein "Homo Politicus ohne Partei" gewesen. Ein desillusionierter Idealist, dessen moralischer Rigorismus keine politische Entsprechung finde und so tatenlos und stumm vor den politischen Entwicklungen in den Dreißiger- und Vierzigerjahren stehen bleibe, wie es auch die Notizen aus dem "Blauen Buch" unterstreichen. Dort, so referierte Hanuschek, inszeniere sich Kästner als "unpolitischer Idealist", der sich vom schmutzigen Geschäft der Politik abwende und verächtlich vor der Immoralität seiner Landleute zurückschrecke. Ursprünglich als Vorlage für einen Roman gedacht, verwarf Kästner sein Tagebuch und damit das Projekt einer Chronik des Dritten Reiches, als ein KZ-Überlebender ihm nach dem Krieg minutiös die Grausamkeiten der Vernichtungslager schilderte. "Also die Idee, einen Sittenroman über das Dritte Reich zu schreiben, diese Idee war zerstört", stellte Hanuschek fest. Der Moralist, so lässt sich sagen, entpuppt sich als politischer Naivling.

Dem gegenüber steht der Erfolg seiner Kinderliteratur, der sicher auch mit den ethischen Herausforderungen im Leben von Pünktchen, Emil und dem doppelten Lottchen zu tun hat. Dass es Kästner dennoch nie darum ging, politische Umbrüche auf der Makroebene voranzutreiben, nahmen ihm viele antifaschistische Autoren übel. Reine Fragen nach Sitte und Moral waren dem Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller nicht genug, suchte man doch nach Stimmen, die gegen die frühe Erziehung der Faschisten anschreiben sollten. Da aber in der kommunistischen Kinderliteratur ein gewisser "ästhetischer Nachholbedarf" bestand, wie Julia Benner es in ihrem Vortrag ausdrückte, wurde Kästner dennoch zum ungewollten Vorbild politischerer Autoren. Während viele dieser Bücher heute aber nur noch im historischen Kontext gelesen werden könnten, bleibe Kästner zeitlos, gerade weil er sich gegen eine klare politische Festlegung entschied. Auf gewisse Weise politisieren seine Geschichten aber eben doch, indem die Suche nach zwischenmenschlichen, ethisch durchdachten Lösungen im Vordergrund steht.

In anderen Vorträgen geriet dieses Bild von Erich Kästner aber ins Schlingern. An dem Frauenbild in seiner Lyrik um 1930 schieden sich bei der Tagung beispielsweise die Geister. Laura Schütz, der die Ironie nicht entging, dass sie als erste Referentin der Tagung (am zweiten Tag) ausgerechnet über die Rolle der Frau in Kästners frühem Werk sprach, zitierte in ihrem Vortrag unter dem Titel "Es gibt da eine Sorte junge Damen" einige recht unschmeichelhafte Zeilen des großen Literaten. In Gedichten wie "Der Chor der Fräuleins" oder der Bildergeschichte "Lieschen Neumann will Karriere machen" kritisiert Kästner das gesellschaftliche Bild der "neuen Frau", dem "Working Girl".

In der Zeit um den Ersten Weltkrieg hatten sich aus akutem Männermangel neue Chancen für Frauen auf dem Arbeitsmarkt ergeben, auf die sie auch in den Zwanzigerjahren nicht mehr verzichten wollten. Viele zog es in die großen Städte, vor allem nach Berlin, um ein finanziell unabhängiges, emanzipiertes Leben zu führen. Einige träumten von Glanz und Gloria, wollten Models oder Schauspielerinnen werden. Die Realität sah zumeist anders aus. Unterbezahlung und lange Arbeitszeiten in prekären Verhältnissen waren keine Seltenheit - wenn Frauen überhaupt eine Anstellung fanden, zum Beispiel als "Schreibfräulein". Nicht unüblich war ein Nebenverdienst als Tänzerin oder Prostituierte.

In Erich Kästners Lyrik kommen diese jungen Damen nicht gut weg. Stattdessen verkennt er offensichtlich die Alternativlosigkeit der Zeit und belehrt altväterlich ("echten Perlenschmuck und Zobeljacken erwirbt man nicht mit Lächeln, liebes Kind"), unterstellt Frivolität statt Geldnot ("Wir winden keine Jungfernkränze mehr / Wir überwanden sie mit viel Vergnügen") und lässt die Damen letztendlich doch um ihr verschenktes Mutterglück als eigentlich höchstes Ziel des Frauseins weinen: "Nur wenn wir Kinder sehn, die lustig spielen", schreibt er zum Beispiel, dann "sind wir traurig."

Die Frage, ob diese Zeilen wohl eher als satirische Analyse des damaligen Gesellschaftsbildes und Kritik an der Kulturindustrie selbst statt an Frauen im Einzelnen zu verstehen sei, teilte in der anschließenden Diskussion den Saal. In einem waren sich aber die meisten einig: Über Kästners Poem "Sogenannte Klassefrauen" müsse man gar nicht reden. Darin wünscht er sich, "diesen Kröten", die ständig nur der Mode folgten, "jede Öffnung einzeln zuzulöten". Den Titel des Moralisten kann man Kästner dann also doch nicht ohne Weiteres ans Revers heften.

© SZ vom 27.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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