Süddeutsche Zeitung

Literatur in Katastrophengebieten:Lesen unter dem Vulkan

Sie hätte sich eine Modeboutique vorstellen können, oder eine Kneipe. Aber dann brach 2002 wieder einmal der Vulkan aus und spuckte der Kongolesin Lumuna ein verkohltes Buch vor die Füße. Und damit die Idee zu einem Buchladen. Doch was lesen Menschen in einem Kriegs- und Katastrophengebiet?

Judith Raupp

Die brutale Herrschaft der Belgier, jahrzehntelange Diktatur und der Dritte Kongokrieg, bei dem sich zwischen 2007 und 2009 die Milizen bekämpften, haben in Kongo ihre Spuren hinterlassen. Die Debatten sind verstummt, die in den Jahren des postkolonialen Aufbruchs Kinshasa zu einem der intellektuellen Zentren Afrikas machten. Der Sinn und die materiellen Möglichkeiten für Kunst, Musik oder Literatur sind verloren gegangen. Doch ausgerechnet im Osten des Landes, wo der junge Frieden besonders fragil ist, wagt Mayaza Lumuna den Versuch, die Kongolesen zum Lesen zu bringen. In Goma, in jener Stadt, die einst als Zufluchtsort für die Völkermörder aus dem benachbarten Ruanda Schlagzeilen machte, betreibt die Kongolesin den einzigen Buchladen in der Region - eher aus Zufall, und mit einer eigenen Vorstellung von Literatur.

Lumuna hätte sich eine Modeboutique vorstellen können, oder eine Kneipe. Aber dann brach 2002 wieder einmal der Vulkan aus und brachte sie auf eine andere Idee: "Mitten im Geröll entdeckte ich ein verkohltes Buch", erinnert sich Lumuna an die Tage, als sich die Lava des Nyiragongo über Häuser, Straßen und Felder ergoss. Jemand musste das Buch aus dem Ausland mitgebracht haben, denn in Goma hatte sie noch nie ein Geschäft gesehen, in dem man derartige Dinge hätte kaufen können. Weshalb also nicht einen Buchladen gründen, dachte Lumuna, einen Laden mit dem Namen "Librairie Lave Littéraire" - "Buchhandlung der literarischen Lava".

Keine ausgeprägte Leidenschaft für Literatur

Die Lava könnte man buchstäblich verstehen - Lumunas Kunden müssen über Geröll klettern, um in das Geschäft zu gelangen. Niemand hat die Brocken weggeräumt. Wer abends lesen will, braucht eine Petroleumlampe oder einen Generator, weil ständig der Strom ausfällt. Gelegentlich vergällen schießwütige Einbrecher die Lektüre. Gewalt, Armut und Zerfall regieren die Millionenstadt. Und mitten in diesem Chaos existiert die Librairie Lave Littéraire.

Fast sechs Jahre hat Lumuna schon durchgehalten, vor allem dank der Hilfe ihres holländischen Ehemanns. Er führt einen Buchladen in Kigali, der Hauptstadt Ruandas. Bei ihm ging Lumuna zwei Jahre lang in die Lehre, bevor sie ihr eigenes Geschäft eröffnete. Er schickte sie zur Fortbildung nach Kamerun und zu Buchmessen nach Frankreich. Und er kaufte das Haus in der Avenue Beni, wo die Librairie Lave Littéraire nun logiert.

In Ostkongo gibt es weder professionelle Verlage noch Druckereien. Deshalb bestellt Lumuna fast alle Bücher in Europa. Auch dabei hilft ihr der Ehemann. Er pflegt die Beziehungen zu ausländischen Verlagen und Autoren, er weiß, welche Themen gefragt sind. Lumuma selbst zeigt keine ausgeprägte Leidenschaft für Literatur. Sie führt ihren Laden, weil der Vulkan ein Buch vor ihre Füße gespuckt hat. Die 35-Jährige liest am liebsten Magazine wie Miss Ebene und Amina. "Mir gefallen die Tipps für schwarze Frauen", sagt sie. Die Illustrierten wissen, welche Cremes die Haut der Afrikanerinnen heller erscheinen lassen, wie aus Kraushaar glatte Strähnen werden, oder wie man dem Ehemann die Vielweiberei abgewöhnen könnte.

"Die meisten Leute wollen einen praktischen Nutzen haben"

2500 Titel führt die Librairie Lave Littéraire: Romane, Ratgeber, Fach- und Kinderbücher, einige wenige ausländische Zeitungen, Biografien. Zum Beispiel jene von Barack Obama, Nelson Mandela und dem Dalai Lama. Auch kritische Werke über Entwicklungshilfe wie "Dead Aid" der sambischen Ökonomin Dambisa Moyo sind ausgestellt, Bildbände über den Virunga-Nationalpark, der gleich hinter Goma anfängt, den aber niemand besucht, weil dort Banden brandschatzen und vergewaltigen. Selbst die Autobiografie von Natascha Kampusch, jener jungen Österreicherin, die jahrelang als Sklavin in Wien gehalten wurde, steht im Regal der kongolesischen Buchhandlung.

Lumuna verkauft aber vor allem Ratgeber zu Management, Kindererziehung, Ernährung oder Selbsthilfe. Verkaufsschlager ist das Werk des Juristen Rufin Lukoo Musubao, der Opfer sexueller Gewalt über ihre Rechte aufklärt. "Die meisten Leute wollen einen praktischen Nutzen haben, wenn sie ein Buch kaufen", erzählt Lumuna. Ob das ein Zerfall der Kultur ist? Ob Kongo jemals wieder zur Elite der afrikanischen Intellektuellen avancieren wird, wie vor der Mobutu-Diktatur? Solche Fragen stellt Lumuna nicht. "Hauptsache, die Menschen lesen, egal was", findet sie.

In der Librairie Lave Littéraire decken sich vor allem Bankangestellte, Staatsfunktionäre und ausländische Entwicklungshelfer ein, Menschen mit Geld. Manchmal bestellen Schulen ein paar Lehrbücher, wenn sie gerade von einer internationalen Organisation eine Finanzspritze bekamen. Auch Studenten und Jugendliche besuchen den Buchladen gern - aber nur zum Blättern. Die Bücher in Goma kosten etwa gleich viel wie in Europa, das ist Luxus in einer Stadt, in der es kaum Jobs gibt und man mit 300 Dollar Monatsgehalt zu den Besserverdienenden gehört.

Mindestens 20 Prozent Bestechungsgebühr

Lumuna setzt in einem Monat Bücher im Wert von 5000 bis 7000 Dollar um. Ob sie daran verdient, hängt von der Laune der Zöllner ab. Die Buchhändlerin holt die Ware bei ihrem Mann im 180 Kilometer entfernten Kigali mit dem Auto ab. Sie muss danach die ruandisch-kongolesische Grenze passieren. Auf der kongolesischen Seite verlangen die Zöllner eine "Bearbeitungsgebühr", also Bestechungsgeld. Mindestens 20 Prozent des Warenwerts kassieren die Staatsangestellten, manchmal fast 100 Prozent. Bezahlt Lumuna nicht, konfiszieren die Zöllner die Bücher. Lumuna will sich nun wehren. Einer ihrer Kunden, ein Politiker, der gerade ins neue Parlament eingezogen ist, soll ihr einen Termin beim Kulturminister verschaffen. Der Herr Minister, so glaubt die Buchhändlerin, müsse die Schikane doch beenden können.

Demnächst will Lumuna auch das Abitur in der Abendschule nachholen und studieren. Mit 18 war sie vorzeitig vom Gymnasium geflogen, weil sie mit ihrem Sohn schwanger wurde. Nicht Literatur oder Kunst will Lumuna an der Uni belegen, sondern Pädagogik. "Unser Land braucht Lehrer, und man weiß nie, was kommt", sagt sie. Die Wissenschaftler sagen, der Vulkan könnte bald wieder ausbrechen und Goma in Schutt und Asche legen. Die Trümmer würden dann wohl auch die Buchhandlung zerstören und den zarten Versuch, die Kongolesen zum Lesen zu bewegen.

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SZ vom 03.05.2012/ihe
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