Literatur:"Ich bin Schreiber, kein Heiler"

Lesezeit: 5 min

Noah Gordon schrieb in den Achtzigerjahren den Bestseller "Der Medicus". Als Musical ist der Roman bis heute ein Kassenschlager

Interview von Susanne Hermanski

Wer vor 30 Jahren S-Bahn fuhr, im Freibad lag oder im Wartezimmer hockte, sah überall dieses Buch: "Der Medicus" von Noah Gordon. Es verkaufte sich Ende der Achtzigerjahre alleine in Deutschland acht Millionen Mal, während es in seiner Heimat, den USA, durchfiel. In der jüngeren Vergangenheit erlebte der Roman ein ungeahntes Revival in Bewegtbildform. Mehr als drei Millionen Zuschauer sahen die Kinoproduktion von Philipp Stölzl 2013, eine längere Fassung als TV-Zweiteiler brach die Einschaltquoten zu Weihnachten 2014. Dadurch beflügelt, legte man 2016 in Fulda das erste "Medicus"-Musical auf, verkaufte seither 200 Vorstellungen davon aus und gastiert nun damit im Deutschen Theater. Wie im Roman geht darin der britische Waisenjunge Robert Jeremy Cole auf eine weite Reise, um die Kunst des Heilens zu lernen. Die führt ihn über Englands mittelalterliche Käffer bis tief in den Orient, wo Mediziner schon viel weiter waren - und trotzdem behindert von religiösen Tabus.

SZ: Musicals liebt man oder man hasst sie - wie ist das bei Ihnen?

Noah Gordon: Als ich 18 Jahre alt war, habe ich eine Reise nach New York unternommen, drei Tage lang mit Freunden den Highschool-Abschluss feiern. Und was haben wir gemacht? Wir gingen jeden Abend in eine andere Broadway-Show. Zwei waren Musicals: "Oklahoma!" und "One Touch of Venus" mit Mary Martin and John Boles. Seitdem liebe ich Musicals.

Sie mussten sich schon bei der Verfilmung Ihres Romans dran gewöhnen, dass eine Adaption stark in Geschichte und Kernaussage eingreift. Noch extremer bei einem Musical. Hat Sie das beschäftigt?

Klar, wenn eine lange Geschichte für Bühne oder Leinwand bearbeitet wird, muss man viel weggelassen. Wichtig ist mir aber, dass Erzählstrang und Originalcharaktere erhalten bleiben. Sonst fühlen sich ja nicht nur der Autor, sondern auch die Leser betrogen.

Wie gefällt Ihnen die Musical-Version?

Ich finde es herrlich, dass wir schon seit drei Jahren einen so großen Erfolg damit in Fulda haben, und ich hoffe, die Münchner werden es auch genießen.

Und die Musik?

Sie ist zeitgenössisch, optimistisch und erfüllt ihren Zweck sehr gut.

Sie waren lange Jahre selbst Journalist. Verfolgen Sie Nachrichten aus dem Nahen Osten, in den Sie Ihren Medicus - wenn auch nur fiktiv und Jahrhunderte früher - reisen ließen?

Meine Frau und ich lesen täglich zwei Zeitungen - den Boston Globe und die New York Times. Wir haben verschiedenste Magazine abonniert, und wir verfolgen sehr intensiv die Fernsehnachrichten - von überall aus der Welt.

Vieles im "Medicus" hat prophetische Züge, wenn man aktuelle Entwicklungen in der Welt betrachtet. Oder ist es anders, und die Geschichte wiederholt sich einfach auf immer selbe, grausame Weise?

Seit es Menschen auf dieser Erde gibt - von den kleinsten Stämmen auf fernen Inseln angefangen, bis hin zu den kultiviertesten Bürgern mächtigster Nationen - schlachten sie sich gelegentlich gegenseitig ab. Und das meistens während sie fromm zu ihren Göttern, oder auch nur dem einen, beten.

Farbenfroh ist die Welt des "Medicus" im Musical. Noah Gordons tiefere Botschaft, dass religiöser Fanatismus eine tiefschwarze Angelegenheit ist, transportiert sich trotzdem. (Foto: dpa)

Aber warum? Was denken Sie als literarischer Doktor, hat der Mensch da eine Art Gendefekt?

Ich bin Schreiber, kein Heiler. Bevor ich meinen ersten Roman schrieb, war ich Journalist. Ich arbeitete bei einer Tageszeitung, dem alten Boston Herald, mit Spezialgebiet Medizinjournalismus. Also: Ja, ich glaube wirklich, die Menschheit hat dieselbe Macke wie alle Tiere auf dieser Welt: den Töte-oder-du-wirst-getötet-Instinkt.

Die Medizin macht unglaubliche Fortschritte. Ihr "Medicus" war neben anderem ein Plädoyer dafür, immer weiterzuforschen. Gibt es aus Ihrer Sicht eine Grenze, die nicht überschritten werden sollte?

Ich glaube, viele Grenzen sind nur dazu gemacht, um übertreten zu werden. Zum Beispiel erlaubt uns der medizinische Fortschritt heute, ein sehr langes Leben zu führen. Doch allzu oft ist dieses lange Leben mit Qualen verbunden. Das menschliche Gehirn schrumpft dabei und funktioniert nicht mehr richtig. Schmerzhafte Leiden können einem das hohe Alter von der Gnade zum Fluch machen.

Wie stehen Sie zur Sterbehilfe?

Alte Menschen sollten den Zeitpunkt ihres Todes selbst wählen dürfen. Ich bin überzeugt, dass alle Arten medizinischer Entscheidungen persönlich getroffen werden müssen, nicht aus Gründen, die die Gesellschaft oder Religion mit sich bringen.

Sie beschreiben jede Art von Religion in Ihren Büchern kritisch. Findet man im Alter trotzdem wieder mehr zum Glauben?

Ich bin selbst in einem religiösen Haushalt aufgewachsen, und ich erinnere mich sehr wohl an die Freude, die ich bei den jüdischen Feiertagen und ihren Ritualen im Familienkreis empfunden habe. Mein Vater war trotzdem Atheist. Und ich habe ihn schon immer für einen sehr, sehr weisen Mann gehalten.

In Ihrem Roman "Medicus" geht es auch ums Verhältnis Schüler zu Meister. Wessen Schüler waren Sie?

Ich war der Schüler jedes guten Autors, den ich je gelesen habe.

Und wessen Meister?

Ich sehe mich selbst nicht als jemandes Meister. Aber es hat mir über all die Jahre immer Freude bereitet, wenn Ärzte zu mir gekommen sind, die sagten, "Der Medicus" habe sie auf die Idee gebracht, ihren Beruf zu ergreifen.

Wie viel Zeit Ihres Lebens haben Sie aufs Lesen verwandt?

Meine Lebenslesezeit dürfte zusammengerechnet viele Jahre tiefster Zufriedenheit und ungeheurer Freude ergeben!

Sie haben der Seniorenresidenz, in der Sie seit einigen Jahren leben, eine Bibliothek geschenkt. Welche Schwerpunkte hat die?

Wir haben diese Bibliothek nicht gespendet - wir haben eine ganz einzigartige Bibliothek entwickelt! Als meine Frau und ich in dieses Dorf für Senioren gezogen sind, war es noch neu. Uns wurden ein großer, leerer Raum und einige Regale zur Verfügung gestellt, mit der Bitte, daraus eine Bibliothek zu machen. Die meisten Mitbewohner sind hochgebildete Leute mit exzellenten persönlichen Bibliotheken.

Was haben Sie dann noch für die gemeinsame Bücherei zusammengetragen?

Wir haben verkündet, dass wir fünf Bücherkisten von jedem Einwohner annehmen würden. Meine Frau Lorraine und ich haben dann konsequent die jeweils besten aus jeder Kiste herausgefischt, egal ob Fiktion oder Sachbuch. Außerdem haben unsere Mitbewohner sehr bald angefangen, uns für den Kauf neuer Bücher Geld zu spenden. Also wann immer es etwas zu feiern gibt - oder zu beweinen. Jetzt, zehn Jahre später, haben wir eine prachtvolle, auserlesene Bibliothek von 4500 Ausgaben, die immer wieder ausgekämmt und um die besten neuen Bücher ergänzt wird.

Ihre Bücher waren in Deutschland besonders erfolgreich, Sie haben dafür stets Ihren Verleger gelobt. Glauben Sie, es gibt noch andere Gründe, warum Ihr deutsches Publikum Ihre Schreibe liebt? Ihre Detailversessenheit vielleicht.

Ich weiß es nicht. Aber ich bin dankbar dafür. Bei all den Lesereisen durch Deutschland habe ich viele Bande geknüpft, echte Freundschaften geschlossen und großartige Erinnerungen mitgenommen.

Sie haben schon viel erlebt und gesehen - derzeit haben viele Leute den Eindruck, der wieder aufkeimende Nationalismus allerorten und der sich verschärfende religiöse Fanatismus steuern die Welt ins Chaos. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Ich verabscheue die heftigen Zeichen des grassierenden Nationalismus in Deutschland, in Amerika und anderen Ländern. Unsere größte Hoffnung auf Weltfrieden liegt in der Pflege bester persönlicher und internationaler Beziehungen. Während ich das sage, bereiten sich die USA gerade auf eine wichtige Wahl vor. Ich hoffe, sie wird meinem Land helfen, den Enthusiasmus wiederzufinden, mit dem es immer schon internationale Allianzen geschlossen hat. Ich hoffe inständig, das Gleiche geschieht auch in anderen Ländern.

Was wünschen Sie Ihren Kindern und Enkeln?

Ich wünsche ihnen ein Leben in einer friedvollen Welt. Ich wünsche ihnen, dass sie immer Liebe erfahren. Ich wünsche ihnen, dass sie in ihrem Leben eine Arbeit finden, die hart ist - und trotzdem stets eine Quelle der Freude und der Erfüllung. So wie es die meine für mich gewesen ist.

Der Medicus - das Musical ; nach dem Roman von Noah Gordon, vom 8. bis 25. November im Deutschen Theater.

© SZ vom 07.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: